Boris Palmer | Bildquelle: RTF.1

Tübingen:

Boris Palmer im Interview zu seinen umstrittenen Corona-Aussagen

Stand: 05.05.20 13:20 Uhr

Für seine Äußerungen zum Umgang mit alten Menschen in der Corona-Krise, erntete der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer viel Kritik. Zwar entschuldigte Palmer sich in einem offenen Brief für seine Wortwahl, die wohl missverstanden wurde, Parteikollegen gehen dennoch auf Distanz.


Die Richtigstellung und Erklärung reicht einigen seiner Partei-Kollegen offenbar nicht: So empfiehlt der Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Tübinger Gemeinderat, Christoph Joachim, Palmer bei der nächsten Oberbürgermeisterwahl nicht weiter zu unterstützen. In Stuttgart soll außerdem am Freitag über ein Parteiausschlussverfahren beraten werden.

Ausschlaggebend für die derzeitigen Debatten um Boris Palmer, war ein Interview im Sat.1-Frühstücksfernsehen vergangene Woche, wir berichteten. Hier sprach der Tübinger OB über die Wichtigkeit der Wiederbelebung der Wirtschaft in der Coronakrise, sorgte aber vor allem mit einem Statement für Empörung.

"Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankung", so Palmer wörtlich.

Die meisten Medien zitierten nur diesen einen Satz, der für viel Ärger und Verunsicherung sorgte.

„Ich habe grüne Grundwerte verteidigt. Dazu gehört, dass wir die Menschen in den ärmeren Ländern auf unserem Planten nicht vergessen. Das sind die Hauptleidtragenden der Weltwirtschaftskrise, in die wir derzeit hinein steuern, daran habe ich erinnert. Und ich glaube auch, dass mein Ansinnen, die Risikogruppen in Deutschland besser zu schützen,und in anderen Wegen zu unterstützen, als wir es derzeit tun, von Vielen zur Zeit durchaus ernst genommen wird. Und das da erkannt wird, dass es ein Dilemma ist, was wir lesen müssen", erklärt uns Palmer im Skype-Interview.

Im Live-Interview auf Sat.1 fügte Palmer an den vielzitierten Satz noch Folgendes an:

"Aber die weltweiten Zerstörungen der Weltwirtschaft sorgen nach Einschätzungen der UNO dafür, dass der daraus entstehende Armutsschock dieses Jahr eine Million Kinder zusätzlich das Leben kostet."

Dass er erneut missverstanden wurde, kann der grüne Oberbürgermeister nicht wirklich verstehen. Er habe lediglich Fakten wiedergegeben, verteidigt sich Palmer. Die anstehende Beratung über ein Parteiausschlussverfahren am Freitag in Stuttgart, könne er nicht nachvollziehen.

„Ich kann gar nicht erkennen, warum aus dem Ansprechen einer Tatsache, dass die meisten Menschen die mit oder an Corona sterben, dem Tod ohnehin schon sehr nahe waren, ein Parteiausschlussgrund entstehen könnte. Tut mir leid, dass ist für mich soweit weg, dass ich gar nicht begreifen kann, wie man auf so eine Idee kommt", so Palmer.

Kritik erntete Palmer auch vom Ministerpräsidenten und Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck. Die eigene Partei steht nicht immer hinter den Äußerungen des Tübinger Oberbürgermeisters. Fühlt sich Palmer selbst denn noch zugehörig?

„Ich behaupte immer noch, ich bin grüner als die meisten meiner innerparteilichen Kritiker und verweise dann doch immer ganz gerne darauf, was wir in Tübingen geleistet haben und welchen Beitrag ich auch dazu erbracht habe. Gerade jetzt können sie z.B. lesen, dass wir für 25 Millionen Euro das Radwegenetz in nur drei Jahren ausbauen werden. Ich habe mich da persönlich sehr intensiv darum bemüht, die Mittel des Bundes und des Landes einzuwerben und mir das Konzept wesentlich selbst ausgedacht. Das soll mir doch mal einer, derjenigen, die sich für grüner halten, zeigen, dass er Vergleichbares geleistet hat", erklärt der Tübinger Oberbürgermeister.

Der Titel seines neuesten Buches „Erst die Fakten, dann die Moral" symbolisiert Palmers Vorgehensweise – und ist gleichzeitig der Grund dafür, warum er immer wieder als nicht empathisch genug empfunden wird.

„Ich finde aber auch, dass mathematisch-empirische Zusammenhänge erst mal gar nicht mit dem Anspruch der Empathie betrachtet werden müssen. Sondern da ist doch die Fragestellung: ist es richtig oder falsch? Und wenn Sie mich fragen, dann habe ich in der Politik den Eindruck, dass zu wenig gefragt wird: Stimmt die Analyse? Sind die Fakten korrekt? Und zu viel gefragt wird: Wie kommt es denn rüber? Ich bin dafür nicht gut geeignet", erklärt Palmer.

Palmer steht zu dem, was er sagt. Dieses Mal jedoch ruderte der OB zurück und entschuldigte sich für seine Aussage in einem offenen Brief. Dafür gab es auch einen Grund.

„Weil ich viele E-Mails bekommen habe. Leider hunderte von denen ich denke, dass sie strafrechtlich relevant sind, mit Mordgelüsten und Todeswünschen, aber auch viele in denen mir Menschen erzählt haben, sie hätten meine Äußerung so verstanden, dass ich sie sterben lassen wolle. Und das auch mit sehr persönlichen Schicksalen und Schilderungen verbunden. Das wollte ich natürlich nicht. Und besonders bei denen, die es so falsch verstanden haben, die geglaubt haben, ich würde sie sterben lassen wollen, da will ich mich auch aufrichtig entschuldigen. Das war natürlich niemals meine Absicht", so Palmer.

Er arbeite schon lange daran, solche Missverständnisse zu vermeiden. Doch jedes Mal, wenn er der Meinung sei, sich aufgrund von Daten, Fakten und Zahlen auf sicherem Terrain zu bewegen, würden seine Aussagen moralisch anders bewertet, erklärt uns Palmer weiter.

„Da werde ich wahrscheinlich auch nicht von loskommen, es sei denn, ich trage immer Maske und dann halt nicht zum Atemschutz, sondern zum Sprechschutz" , scherzt Palmer.

Ob er bei der nächsten Oberbürgermeisterwahl 2022 Unterstützung aus den eigenen Reihen erhält, wird sich zeigen. Er selbst wisse aber noch gar nicht, ob er überhaupt wieder antreten werde – schließlich sei er dann schon 50 und bereits seit 16 Jahren im Amt. Eine Entscheidung hätte er diesbezüglich noch nicht getroffen.

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