Reulingen: Tübinger Tor | Bildquelle: RTF.1

Reutlingen:

Historische Debatte im Gemeinderat: Stadt Reutlingen will sich von ihrem Landkreis trennen

Stand: 24.07.15 19:28 Uhr

Jetzt ist es klar: die Stadt Reutlingen will sich vom Landkreis trennen. In einer historischen und teils leidenschaftlichen Debatte hat sich der Gemeinderat gestern Abend mit einer Dreiviertel-Mehrheit dafür entschieden, beim Innenministerium einen Antrag auf die Stadtkreisbildung zu stellen. Das Thema ist nicht neu: Drei OBs haben sich 25 Jahre lang mit dieser Frage beschäftigt, ob es Reutlingen so nicht besser ginge, weil die Stadt schon lange die Aufgaben einer Großstadt erfülle und gleichzeitig - mit ihren besonderen Bedürfnissen - im Kreistag in der Stimmen- Mehrheit kleiner ländlicher Gemeinden unterginge. Reutlingen zahle für vieles doppelt - so hat es OB Barabara Bosch immer wieder dargestellt. Eine Trennung bringe der hochverschuldeten Stadt im Jahr 4 Millionen Euro mehr in die Kassen. Jetzt sei es an der Zeit - so Bosch gestern - wie vergleichbare Großstädte - endlich kreisfrei und damit gleichgestellt zu werden.


Reutlingen: die jüngste und mit gut 112.000 Einwohnern auch kleinste der neun Großstädte in Baden-Württemberg. Als einzige ist sie nicht kreisfrei. Das Kriterium einer 100.000 Einwohner-Grenze, die ein neuer Stadtkreis erfüllen müsse – wie heute noch viele meinen – ist längst abgeschaft. Andere Kriterien erfüllt die Stadt: Eine kreisfreie Stadt muss demnach unter anderem mindestens ein Drittel der Einwohner des Kreises beherbergen. In Bosch Augen brächte die Auskreisung vor allem einen Zugewinn an Demokratie, ebenso aber finanzielle Vorteile.

Gleicher Meinung ist die SPD. Die Partei hat gestern einstimmig für den Antrag gestimmt. Die Gründe seien dem Fraktionsvorsitzenden Helmut Treutleich zufolge überzeugend: Reutlingen sei groß genug, dass es Stadtkreis sein könne. Und das wäre für die Stadt ein großer Gewinn, in vielerlei Hinsicht. Zunächst wegen der demokratischen Mitbestimmung: Die Bürger Reutlingens wüssten dann, der Gemeinderat sei für alles zuständig. Seiner Meinung nach brauche die Stadt den Landkreis dafür nicht.

Die FDP-Räte seien der Meinung –so der Fraktionsvorsitzende Hagen Kluck – dass die Stadt versuchen müsse, ihr Schicksal ganz in die eigenen Hände zu nehmen. Das sei eine reine Sachfrage. Alles das, was der Landkreis der Stadt freiwillig übertragen könne an Aufgaben, würde sie schon wahrnehmen. Und deswegen halte Kluck es für richtig, dass die Stadt versuche, gleichbehandelt zu werden mit ähnlich großen Städten wie Ulm, Heilbronn und Pforzheim. Nix Ungewöhnliches sei das, sondern nur ein Antrag, dass Reutlingen auch in die Normalität komme. Deshalb haben alle drei liberalen Gemeinderäte für den Antrag votiert.

Und auch die sechs Mitglieder der Freie Wähler Vereinigung standen gestern geschlossen hinter dem Antrag. Dafür gebe es viele Gründe. Der wichtigste Grund sei laut Vorsitzendem Jürgen Fuchs, dass die Gemeinde auf ihrem Gebiet alle Aufgaben selbst lösen solle und es gäbe keine Einschränkungen durch Gesetze in diesem Fall, sondern die Möglichkeit, als potente Stadt mit der Möglichkeit der Aufgabenerledigung einen Stadtkreis zu bilden.

Auch die Grünen haben sich mehrheitlich für den Antrag entschieden. Die Stadt würde mehr einnehmen und die Bürger würden durch die vereinheitlichten Verwaltungsstrukturen profitieren – ein Zuwachs an Bürgernähe. Außerdem sei es dem Sprecher der Fraktion Rainer Buck zufolge ja ein grünes Gedankengut, dass sie sagen Subsidiarität: Vorrang der kleinen Einheit. Wenn eine Einheit in der Lage sei, die Dinge selber zu bewältigen, dann sollte sie es auch tun. Und die Ratsmitglieder würden in der Mehrheit denken, dass das der Fall sei. Reutlingen könne sich selber verwalten. Der Partei sei aber wichtig, dass die Auskreisung kein Kampf gegen den Landkreis sei. Einzig Gabriele Janz hatte gegen den Antrag gestimmt. Sie wolle mehr auf das Zusammenwirken als auf die Trennung setzen. Ein Thema also, das auch innerhalb der Parteien für Unstimmigkeiten sorgt.

Gespalten ist auch die CDU-Fraktion. Die Mehrheit habe sich anhand der vorgelegten Daten und Fakten entschieden, den Antrag zu unterstützen – so der Fraktionsvorsitzende Andreas vom Scheidt. Die Räte seien davon überzeugt, dass es der richtige Schritt für Reutlingen sei, den Weg in Richtung Stadtkreis zu gehen. Die Stadt könne ihre Aufgaben bestens selbst erledigen. Und die Kappung vom Landkreis sei keine Entscheidung gegen den Landkreis. Schließlich blieben die Verflechtungen mit auch nach Gründung eines Stadtkreises bestehen. Im Vorfeld hatte die Partei ihren Mitgliedern auf den Puls gefühlt; die aber hatten sich – in Stadt und Kreis – mit rund neunundachtzig Prozent überwältigend gegen die Antragstellung ausgesprochen. Die vier, die laut CDU-Stadträtin Gabriele Gaiser dagegen gestimmt haben, hätte nachhaltig einfach auch das öffentliche Interesse bzw. die öffentliche Meinung bewogen, so zu stimmen. Und jeder bewerte natürlich auch die Argumentation und die Fakten anders. Neben Gaiser hatten auch Elisabeth Hillebrandt, Rainer Löffler und Karin Villforth den Antrag abgelehnt.

Auch Thomas Ziegler von der Linken freut sich, dass er jetzt mit seiner Meinung nicht mehr alleine dasteht. Er habe sich bereits vor zwei Jahren gegen eine Auskreisung ausgesprochen. Und der Beratungsprozess jetzt habe ihn in seiner Haltung bestärkt. Die Stadt Reutlingen gewinnt etwas durch die Auskreisung an Strukturen, an Verantwortlichkeiten. Aber letztlich seien die Vorteile dem Sprecher der Partei überschaubar, während der Landkreis deutlich verlieren würde und zu einem der kleinsten und schwächsten Landkreise werden würde in der Region – mit Abstand der schwächste. Und Reutlingen habe nichts davon, ein schwaches Umland um sich herum zu haben. Eine Position, die exakt auch der Landkreis vertritt.

Auch die Wählervereinigung Wir in Reutlingen stellt sich klar gegen den Antrag. Die Räte seien sich inzwischen absolut sicher, dass eine Auskreisung der falsche Weg ist. Sprecher Prof. Jürgen Straub habe sich mit einigen verschiedenen Abgeordneten, sogar mit ein paar Ministern aus verschiedenen Bundesländern unterhalten – über die gesamte politische Palette hinweg: schwarz, rot, gelb, grün, alles. Und bis auf ein Statement sei von allen zu hören gewesen, dass eine Auskreisung heutzutage nicht mehr zeitgemäß sei. Die Stadt müsse eher drauf dringen, größere Verwaltungsstrukturen zu haben und nicht immer noch kleinere.

Diese Meinungen gehörten gestern aber der Minderheit an. Nur zehn der vierzig Gemeinderäte stimmten dagegen. Jetzt wird die Stadtverwaltung der Antrag beim Innenministerium einreichen. Oberbürgermeisterin Barbara Bosch sei sehr zuversichtlich, weil ich glaube, dass die Stadt gute Argumente habe und gut aufgestellt sei. Und man werde diesen Antrag jedenfalls nicht leichtfertig vom Tisch wischen – das werde das Ministerium ohnehin nicht tun – und man werde sich intensiv damit beschäftigen. Bosch rechne Reutlingen gute Chancen aus.

Jetzt geht der Antrag der Stadträte erst einmal ans Stuttgarter Innenministerium, das dann Experten zu Rate zieht. Schließlich würde der Antrag der Stadt zur Abstimmung im Landtag landen. Denn nur dort hätten die Abgeordneten als höchste Instanz das letzte Wort.

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