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Türkei:

Türkei-Wahl: Ohne Koalitionspartner muss AKP in die Opposition - Erdogans Regierungspartei verliert absolute Mehrheit - Zwischenstand: AKP 40,82%, CHP 25,01%, MHP 16,34%, HDP 13,07% -HDP schafft 10%-Hürde.

Stand: 08.06.15 01:48 Uhr

07.06.2015. Nach der Auszählung eines Großteils der Stimmen zur Türkischen Parlamentswahl zeichnet sich immer deutlicher ein Verlust der absoluten Mehrheit für die Regierungspartei AKP ab. Die AKP ist demnach auf einen Koalitionspartner angewiesen oder muss in die Opposition. Der türkische Präsident Erdogan (AKP) hatte sich zum Ziel gesetzt, eine Zweidrittel-Mehrheit zu erreichen, um die Verfassung zu ändern und ein Präsidialsystem einzuführen. Aufgrund der türkischen 10%-Klausel hängt das Endergebnis der Wahl dabei entscheidend davon ab, ob es der Kurdenpartei HDP gelingt, die 10%-Hürde zu überspringen. Nach dem derzeitigem Stand (23:35 Uhr) der Auszählungen liegt die HDP dem Sender CNN Türk zufolge bei 13,07% (79 Sitze). Die MHP liegt derzeit bei 16,34% (81 Sitze), die CHP bei 25,01% (132 Sitze). Die AKP ist demnach stärkste Partei mit 40,82% (258 Sitze), hat allerdings ihre absolute Mehrheit eingebüßt und das Wahlziel einer Zweidrittelmehrheit weit verfehlt. Im Verlauf der letzten zwei Stunden haben sich die Ergebnisse für die einzelnen Parteien nur noch geringfügig verändert. Hier eine erste Wahlanalyse und die aktuellen Ergebnisse für die einzelnen Wahlkreise:

Wahl-Analyse:

Wenn sich bestätigt, dass die HDP die 10%-Hürde übersprungen hat, ist die AKP auf einen Koalitionspartner angewiesen oder muss in die Opposition. Stand 21:40 Uhr verfügt die AKP über 258 von 550 Mandaten, das sind 46,9% der Parlamentssitze. Die drei Parteien  CHP, MHP und HDP verfügen zusammen über 292 von 550 Parlamentssitzen, das sind 53% der Abgeordneten.

Bei der letzten Parlamentswahl hatte die AKP noch die absolute Mehrheit erreicht, obwohl sie prozentual gesehen ein deutlich schlechteres Stimmenergebnis wie bei der heutigen Wahl zur NAtionalversammlung erhalten hatte. Der Grund dafür war, dass damals die HDP an der 10%-Hürde gescheitert war. Deswegen war die HDP in der vergangenen Legislaturperiode nicht im Parlament vertreten und die der HDP verloren gegangenen Parlamentssitze waren anteilig auch der AKP zugefallen.

Bei der heutigen Parlamentswahl hat die AKP deswegen trotz Stimmenzuwachs ihre absolute Mehrheit verloren und ist, um weiter regieren zu können, auf einen Koalitionspartner angewiesen.

Die spannende Frage ist nun, ob es einerseits der AKP gelingt, einen Koalitionspartner zu finden und eine Koalition mit einer der drei Oppositionsparteien einzugehen. Eine Koalition der AKP mit der MHP von Erdogans Intimfreind Gülen dürfte nach den massiven Machtkämpfen der vergangenen Jahre zwischen AKP und MPH im Staats- und Verwaltungsapparat  äußerst unwahrscheinlich sein. Eine Koalition mit der kemalistischen Partei CHP erscheint ebenfalls unwahrscheinlich, da die AKP unter Erdogan in den vergangenen Jahren eine systematische Entsäkularisierung der Türkei eingeleitet hat, und damit die Politik des türkischen Staatsgründers Atatürk massiv konterkarriert hat.

Denkbar wäre möglicherweise eine Koalition mit der Kurdenpartei HDP, da Erdogans AKP in den vergangenen Jahren den Status und die Rechte der kurdischen Minderheit erheblich verbessert hat. Allerdings hat es der Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, im Vorfeld der Wahlen die von Erdogans AKP geplanten Verfassungsänderungen kategorisch abgelehnt. Der Nachrichtensender n-tv.de zitiert Demirtas´ berühmte 90-Sekunden-Rede im März 2015 vor dem türkischen Parlament mit den Woorten: "Recep Tayyip Erdogan, solange es die HDP gibt, solange HDP-ler auf dieser Erde atmen, wirst Du nicht Präsident [in einem Präsidialsystem] werden."  Die Tageszeitung Welt.de berichtete in der Wahlnacht,Demirtas habe versprochen, "mit jeder anderen Partei über eine Koalition nachdenken zu wollen, die bereit sei, die Rechte der Kurden als Thema anzugehen – nur nicht mit der AKP."

Dass Erdogan die von ihm angestrebte Zweidrittelmehrheit doch noch im Rahmen einer Koalition erreicht, scheint ausgeschlossen. Denn dazu bräuchte er einen Koalitionspartner mit mindestens 105 Stimmen - und so viele Abgeordnete hat nach dem Stand der Auszählungen nur die CHP. Die Partei des Staatsgründers Atatürks also, dessen säkulären Staatsstrukturen Erdogans AKP ja weghaben möchte.

Scheitert die AKP mit der Regierungsbildung, könnte das der innerparteilichen AKP-Opposition Auftrieb in der Positionierung gegen AKP-Chef Erdogan geben. Dazu könnten beispielsweise AKP-Mitglieder um den früheren Staatspräsidenten Abdullah Gül, um das AKP-Gründungsmitglied und derzeitigen stellvertretenden Ministerpräsidenten Bülent Arinc gehören, sowie diejenigen Mitglieder der Hizmet-Bewegung, die bislang noch nicht aus der AKP ausgetreten sind. 

Und andererseits ist die Frage, ob es den drei bisherigen Oppositionsparteien - daher der Partei des Staatsgründers Kemal Atatürk, CHP, der Partei von Erdogans Intimfeind Gülen, MHP, und der Kurdenpartei HDP, gelingt, sich auf eine gemeinsame Basis für eine Koalition zu verständigen. Denn nur eine Koalition aus allen dreien bisherigen Oppositionsparteien kann die AKP aus der Regierungsverantwortung in die Opposition bringen. CHP und MHP könnte dabei die Ablehnung von Erdogans Politik einen. Wobei - im Gegensatz zur kemalistischen CHP auch Gülens MHP ihre Politik als religiös verankert versteht. Die Frage ist, ob es weitere Gemeinsamkeiten von CHP und MHP zur Kurdenpartei HDP gibt, welche die Basis für eine Koalition sein können, oder ob alleine der Wille zur gemeinsamen Ablösung der AKP in der Regierungsverantwortung für eine Koalition ausreicht.

Der HDP unter der Doppelspitze von Figen Yüksekdag und Selahattin Demirtas könnte nach der Wahl also die Rolle des Königsmachers zufallen.

In der Türkei wird der Ministerpräsident allerdings vom Staatsoberhaupt, also von Präsident Erdogan, bestimmt. Jede Partei benennt dem Staatsoberhaupt dazu einen Kandidaten. Das Staatsoberhaupt wählt den Ministerpräsidenten aus diesen Kandidaten aus. Der vom Staatsoberhaupt ausgewählte Ministerpräsident muss sein Regierungsprogramm und die Liste seiner Minister dem Parlament zur Abstimmung vorlegen.

Erteilt das Parlament dem Ministerpräsidenten in der Abstimmung das Vertrauen, werden die Minister vom Staatspräsidenten förmlich ernannt.  Gelingt die Regierungsbildung nicht, sind Neuwahlen möglich: Wenn der Ministerrat - daher Ministerpräsident und Minister - nicht das Vertrauen der Nationalversammlung enthält, kann das Staatsoberhaupt die Nationalversammlung auflösen, so dass es zu Neuwahlen kommt. 

 

Die Wahlkreise:

Die Wahlkreise in der Osttürkei gehen mehrheitlich an die Kurdenpartei HDP:

Stand: 20:13 Uhr

Tunali (60,64%), Ardahan (29,64%), Kars (41,96%), Agri (78,26%), Igdir (55,34%), Mus (66,61%), Van (73,15%), Bitlis (60,46%), Batman (72,14%), Diyarbakir (78,3%), Siirt (65,367%), Mardin (72,03%), Sirnak (84,62%), Hakkan (86,78%)

Ein schmaler Wahlkreisgürtel (13 Wahlkreise) entlag der Westtürkei geht mehrheitlich an die CHP:

Stand: 20:05 Uhr

Edirne (53,69%), Kirklareli (50,14%), Tekirdag (44,53%), Canakkale (39,53%), Izmir (45,66%), Aydin (40,75%), Mugla (45,75%), Zonguldak (39,42%), Eskisdehir (39,49%), Mersin (28,78%).

Ein Wahlkreis geht mehrheitlich an die MHP:

Stand: 20:05 Uhr

Osmaiye (41,19%).

Alle anderen Wahlkreise gehen mehrheitlich an die AKP:

Stand: 20:33 Uhr

Hier eine Auswahl der AKP-Wahlkreise: Istanbul (42,06%), Balikesir (39,1%), Manisa (39,88%), Usak (38,09%), Denizli (39,62%),  Burani (43,24%),Antalya (35,11%),  Abkara (42,06%), Bursa (43,84%), Konja (65,4%), Kastamona (48,81%), Samsun (53,15%), Amasya (44,26%), Tokat (51,54%)Sivas (57,74%), Adiyaman (58,67%), Malatya (58,62%), Sanliurfa (47,1%), Erzurum (52,78%), Artvin (38,98%), Orau (53,15%), Tokat (51,54%), Rize (66,73%), Bayburt (60,23%), Trobiouss (55,32%), Girsesum (53,56%).

 

Hintergrund:

Der türkische Präsident Erdogan war über lange Jahre Ministerpräsident der Türkei. Als eine erneute Wiederwahl zum Ministerpräsidenten aufgrund der türkischen Rechtslage nicht mehr möglich war, kandidierte Erdogan erfolgreich für das Präsidentenamt. Neuer Ministerpräsident wurde Ahmet Davutoglu (AKP). Die Machtbefugnisse des Türkischen Präsidenten gehen Erdogan allerdings nicht weit genug. Deshalb hatte Erdogan bei der heutigen Parlamentswahl eine Zweidrittelmehrheit angestrebt, um in der Türkei ein Präsidialsystem einzuführen.

Im Vorfeld der heutigen Parlamentswahl konnten bereits die im Ausland lebenden 2,8 Millionen Türken in Wahlbüros, Botschaften, auf Flughäfen und an Grenzübergängen ihre Stimme abgeben. Medienberichten zufolge hatten allerdings die im Irak lebenden Türken aufgrund von Sicherheitsbedenken der Türkei keine Möglichkeit, ihre Stimmen abzugeben.  In Deutschland hatten die Grünen unter Cem Özdemir dazu aufgerufen, nicht die AKP zu wählen, sondern die kurdische HDP zu unterstützen.

In den vergangenen Jahren war es in Beamtentum, Justiz und Verwaltung zu einem Machtkampf zwischen Anhängern von Erdogans AKP  und von Gülens MPH gekommen. Während Erdogan und Gülen zunächst Verbündete waren, warf Gülen Erdogan vor, missliebige Staatsangestellte aus dem Staastsdienstzu entfernen oder zu versetzen. So soll Erdogan Staatsanwälte und Justizangehörige, die Ermittlungen gegen ihn eingeleitet hatten, versetzt haben. Erdogan wird zudem vorgeworfen, die Presse- und Meinungsfreiheit einzuschränken und gegen missliebige Journalisten und Medien mit massiven Mitteln vorzugehen. Befürworter von Erdogans AKP halten dagegen, die AKP habe in den  vergangenen Jahren "viel für das Land getan."

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