Leichtathletik: Startblöcke | Bildquelle: RTF.1

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Zahl der dopingverdächtigen Leichtathleten offenbar höher als gedacht

Stand: 02.08.15 12:25 Uhr

Die Zahl der dopingverdächtigen Leichtathleten liegt höher als jemals gedacht - zu dieser Einschätzung kommen in der ARD-Dokumentation "Geheimsache Doping: Im Schattenreich der Leichtathletik" weltweit führende Blutdoping-Experten nach der Analyse einer geheimen Datenbank des Weltleichtathletikverbandes IAAF. Die Liste mit mehr als 12.000 Bluttests von rund 5.000 Leichtathleten aus den Jahren 2001 bis 2012, darunter zahlreiche Olympiasieger und Weltmeister, hat die im WDR beheimatete ARD-Dopingredaktion gemeinsam mit der britischen Zeitung Sunday Times zunächst statistisch ausgewertet und dann führenden Blutdoping-Experten zur Begutachtung übergeben.

Mit den Australiern Michael Ashenden und Robin Parisotto waren zwei der international erfahrensten Wissenschaftler auf dem Gebiet des Blutdopings vom WDR mit der Analyse betraut worden. Ashenden und Parisotto, beide Miterfinder des EPO-Nachweises, kamen zu einem ernüchternden Ergebnis: Insgesamt 800 Athleten in den Disziplinen von 800 m bis zum Marathon weisen Werte auf, die nach der Definition des Biologischen Passes der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) als verdächtig oder gar hochverdächtig gelten.

Bei der Analyse von Blutwerten der Medaillengewinner von Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen zwischen 2001 und 2012 in denselben Disziplinen fällt das Expertenurteil noch krasser aus: Jede dritte Medaille wurde demnach von Athleten gewonnen, bei denen einer oder sogar beide Experten in der Datenbank dopingverdächtige Blutwerte ermittelt haben. Bei jedem sechsten Medaillen-Gewinner ist sich mindestens einer der Wissenschaftler sogar so gut wie sicher, dass der Athlet im Laufe seiner Karriere gedopt hat.

"Oft wurden sogar zwei der drei Medaillen von Athleten gewonnen, die im Lauf ihrer Karriere gedopt hatten. In einer der Disziplinen hatten sogar alle drei Athleten auf dem Podium nach meiner Einschätzung höchstwahrscheinlich irgendwann Dopingmittel genommen", so Michael Ashenden.

Auffällig ist, dass der größte Teil der Sportler, die in der Datenbank mit verdächtigen Blutwerten auftauchen, nicht sanktioniert worden ist. Nur gegen ein Drittel von ihnen läuft ein Verfahren oder sie sind bereits gesperrt. Die restlichen zwei Drittel sind nie überführt worden. Ein Missverhältnis, dass bei den Medaillengewinnern noch größer wird: Von 146 Medaillen, die von Athleten mit verdächtigen Werten errungen wurden, sind nur vier aberkannt worden. Michael Ashenden kritisiert die Anti-Doping-Politik der IAAF: "Sie hätte eigentlich sehen müssen, wie die schreckliche Wahrheit unter der Oberfläche aussah.

So ist es meiner Meinung nach eine schamlose Vernachlässigung ihrer elementaren Pflicht, ihren Sport zu überwachen und die sauberen Athleten zu schützen." Robin Parisotto sieht ebenso vor allem den Weltverband in der Verantwortung: "Wer auch immer also innerhalb der IAAF und in einigen nationalen Verbänden für das Ergebnismanagement verantwortlich ist", so seine Einschätzung, "hat offenbar keinen besonders guten Job gemacht." Der Weltleichtathletikverband IAAF weist jede Kritik am Ergebnismanagement zurück und betont, methodisch verlässlich zur Feststellung von Doping seien ausschließlich Analysen, die den strengen Testanforderungen des Biologischen Passes für Athleten folgen. "Jeder andere Ansatz, insbesondere das Nutzen von Daten, die über einen längeren Zeitraum zu verschiedenen Zwecken, unterschiedlichen Zielen und mit unterschiedlichen Analysemethoden erfasst wurden, ist nichts als Spekulation", heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme. Robin Parisotto und Michael Ashenden kennen diese Anforderungen und haben mit denselben Analysemethoden gearbeitet, die auch bei offiziellen Nachweisverfahren zum Einsatz kommen.

Sie halten an ihrer Einschätzung fest. Ein Vergleich der Ergebnisse der Auswertung der Datenbank zum Radsport macht deutlich, dass der Anteil auffälliger Blutwerte in der Leichtathletik in einigen Jahren sogar deutlich höher lag als im Radsport, der lange als die Sportart mit dem größten Dopingproblem galt. Robin Parisotto: "Es ist alarmierend, wie verbreitet Doping in der Leichtathletik ist. Trotz vieler Kritik hat der Radsport im Vergleich gut auf die Herausforderungen durch Doping rund um die Jahrtausendwende reagiert. Das muss die Leichtathletik nun auch. In dieser Hinsicht liegt sie vermutlich 10 oder 15 Jahre hinter dem Radsport zurück." Michael Ashenden: "Für mich sieht es so aus, dass die Leichtathletik heute in der gleichen teuflischen Situation ist wie der Radsport vor 20 Jahren." Bei einer Reihe von Athleten in der Datenbank waren die Blutwerte nach Expertenmeinung sogar lebensgefährlich. Michael Ashenden zieht den Vergleich mit Todesfällen junger Radfahrer in den neunziger Jahren durch mutmaßliche EPO-Verabreichung: "Ich befürchte, es könnte eine noch größere versteckte Spur des Todes in der Leichtathletik geben. Einige dieser Athleten haben riskiert, an der Blutverdickung zu sterben."

Zur ARD-Dokumentation "Geheimsache Doping: Im Schattenreich der Leichtathletik"

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