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Tübingen:

NS-Zwangsverkäufe oder NS-Raubgut? - Provenienzforschung im Stadtmuseum Tübingen ist gestartet

Stand: 22.05.15 20:02 Uhr

21.05.2015. Die Universität Tübingen lässt Schenkungen und Käufe aus den Jahrn 1933 bis 1957 daraufhin überprüfen, ob es sich um NS-Zwangsverkäufe oder um nationalsozialistisches Raubgut handelt. Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste (früher: Arbeitsstelle für Provenienzforschung) hat dem Stadtmuseum Tübingen dafür jetzt Fördergelder für die Einrichtung einer Stelle in der Provenienzforschung bewilligt. Diese Aufgabe hat die Kunsthistorikerin Dr. Andrea Richter zum 15. April 2015 übernommen. Im Rahmen des Drittmittelprojekts "Langfristige Aufarbeitung der frühen Sammlungsankäufe und Schenkungen der 1940er und 1950er Jahre" hat sie damit begonnen, die städtischen Sammlungen Tübingens zu erforschen.

Bereits 2011 hatte das Stadtmuseum eine Thorascheibe – die unterste Scheibe eines Thorastabes – bei einem öffentlichen Festakt an die Nachfahren des Stifters der Thorarolle zurückgeben können. Die Standscheibe der Thorarolle oder die Thorarolle war höchstwahrscheinlich von den deutschen Nationalsozialisten geraubt worden. Die rechtmäßigen Eigentümer konnte der Fachbereich Kunst und Kultur über die Datenbank „Lost Art" ausfindig machen. „Davon ausgehend stellte sich die Frage, ob es im Museumsbestand weitere Gegenstände gibt, die aus NS-Raubgut stammen", erläuterte Daniela Rathe, Leiterin des Fachbereichs Kunst und Kultur.

Die Verdachtsmomente zielen auf drei Bereiche: Erstens geht es um die Eingänge ins Museum zwischen 1933 bis 1945, zweitens um die Ankäufe in der Nachkriegszeit und drittens um Schenkungen von NS-belasteten Tübinger Universitätsprofessoren. „Diese drei Konvolute werden wir jetzt sukzessive erschließen", kündigte Wiebke Ratzeburg, die Leiterin des Stadtmuseums, an. Das Eingangsverzeichnis des Museums führt für die Zeit von 1933 bis 1957 insgesamt 982 Objekte auf, deren Provenienz nicht lückenlos nachweisbar ist: Grafiken und Plastiken, aber auch Bücher und Gebrauchsgegenstände. Andrea Richter wird die Herkunft der Einzelobjekte recherchieren, damit Gegenstände mit belasteter Herkunft gegebenenfalls zurückgegeben werden können.

Die Quellen der Provenienzforschung

Die Kunsthistorikerin sichtet zunächst die Eingangsbücher, wobei sich in der Zeit von 1922 bis 1936 mehrere Verzeichnisse überschneiden: Es gibt verschiedene Kassen- und Zugangsbücher des Kunst- und Altertumsvereins, der seine Sammlung 1940 der Stadt übergab. In den Inventarbüchern vor 1950 fehlen oft die Herkunftsnachweise und das Eingangsdatum. Weiterhin sucht Andrea Richter in den Sammlungsakten und in der Geschäftskorrespondenz nach Hintergründen zu den Erwerbungen. Außerdem müssen die ersteigerten Werke mit Auktionskatalogen und Versteigerungsprotokollen abgeglichen werden, um Hinweise auf die Einlieferer zu sammeln.

Historischer Hintergrund der verdächtigen Sammlungsbereiche

Schon vor 1938 fanden in Tübingen Zwangsverkäufe von jüdischem Besitz und Vermögen statt, zum Beispiel bei den Familien Löwenstein, Stern, Oppenheim-Schäfer, Dessauer und bei den Textilhändlern Hirsch und Lion. Gut dokumentiert sind die Zwangsenteignung des großbürgerlichen Anwesens (Uhlandstraße 15) der jüdischen Familie Hayum, in das anschließend die SA-Standarte einzog, und der Abbruch der Geschäftsbeziehungen der Stadt mit dem Bankhaus Weil 1938/1939 (Wilhelmstraße 22).

Nach 1945 erwarb der ehemalige Kulturamtsleiter Dr. Rudolf Huber hochwertige Kunst von Auktionshäusern und Privatpersonen, die in den NS-Kulturgutraub involviert waren. Dazu gehören die Kunsthandlung von Dr. Hans Hellmut Klihm und das Auktionshaus von Prof. Adolf Weinmüller in München, die Galerie von Dr. Fritz C. Valentien, der Auktionator Otto Greiner und das Kunstkabinett von Roman Norbert Ketterer in Stuttgart sowie das Antiquariat Dr. R. Hartmann in St. Gallen und die Galerie Fischer in Luzern. Sie handelten nachweislich auch nach Kriegsende mit geraubter oder beschlagnahmter Kunst.

In den 1950er- und 1960er-Jahren erhielt das Stadtmuseum viele Schenkungen von prominenten Tübinger Persönlichkeiten, bei denen inzwischen eine Verbindung zu NS-Parteiorganen oder eine ideologische Nähe zum Nationalsozialismus aufgedeckt wurde. Dieser Bereich ist besonders heikel, da diese Persönlichkeiten teilweise bis heute hoch angesehen sind. Ein Beispiel ist Theodor Haering, der im Nationalsozialismus als Philosoph an der Universität lehrte. Er schenkte der Stadt u. a. sein ehemaliges Wohnhaus, in dem heute noch der Großteil der musealen Sammlung des Stadtmuseums untergebracht ist.

Die Verstrickungen Tübinger Persönlichkeiten mit der städtischen Kunstsammlung wurden bisher noch nicht aufgearbeitet. Notwendig sind beispielsweise Recherchen zu einem studentischen Verbindungshaus, das die Stadt 1938 kaufte, um darin ein Heimatmuseum einzurichten. Auch wird Andrea Richter Hinweisen auf absichtliche Verschleierungen nachgehen.

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