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Deutschland:

Pflegepflichtversicherung deckt längst nicht alles ab - Sozialhilfequote auf über 40% gestiegen

Stand: 09.04.15 10:47 Uhr

Das DIW Magazin "DIW Wochenbericht" hat ein Interview mit Dr. Johannes Geyer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Staat am DIW Berlin geführt. Die 6 Fragen drehen sich um das Thema Pflege, Pflegebedürftige und die Finanzierung der Pflegekosten, die durch die Pflegepflichtversicherung nicht abgedeckt werden. Für Patienten in stationären Einrichtungen ist demnach "die Quote der der Inanspruchnahme der ergänzenden Sozialhilfe auf über 40 Prozent gestiegen". Hier das Interview:

1. Herr Geyer, wie viele Menschen in Deutschland beziehen Leistungen aus der Pflegeversicherung (PV), und wie hat sich die Zahl in den letzten Jahren entwickelt?

Aktuell beziehen ungefähr 2,6 Millionen Personen Leistungen aus der Pflegeversicherung, und diese Zahl ist seit 1998 um über 40 Prozent gestiegen. Von den Leistungsbeziehern leben ungefähr zwei Drittel in privaten Haushalten und ein Drittel in Pflegeheimen.

2. Wie ist dieser Anstieg zu erklären?

Der Anstieg ist vor allem aus der demografischen Entwicklung zu erklären, also einer Zunahme der älteren Bevölkerung. Das Pflegerisiko steigt insbesondere ab dem Alter von ungefähr 80 Jahren, in der Altersgruppe 80–85 liegt die Pflegequote bei 20 Prozent und steigt danach stark an. Die Bevölkerungsgruppe der Älteren hat in den letzten Jahren zugenommen und wird auch in den kommenden Jahren weiter zunehmen.

3. Über welches Einkommen verfügen Pflegebedürftige in Privathaushalten?

Das gewichtete Haushaltseinkommen in Pflegehaushalten liegt bei etwas über 20000 Euro pro Jahr. In Haushalten ohne Pflegepersonen hat es ungefähr die gleiche Höhe. Allerdings unterscheidet es sich in der Zusammensetzung. Pflegehaushalte sind stärker von öffentlichen Transfers abhängig, während sonstige Haushalte stärker Einkommen aus Erwerbstätigkeit beziehen. Zudem verfügen Pflegehaushalte seltener über Kapitaleinkünfte, und wenn man die Höhe der Kapitaleinkünfte betrachtet, liegen diese auch unter den Kapitaleinkommen von Vergleichshaushalten.

4. Wo liegen die Ursachen für die Vermögensunterschiede?

Die Vermögensunterschiede zwischen Haushalten ohne und mit Pflegebedarf können wir nicht vollständig erklären. Es kann gut sein, dass die Pflegesituation so kostenintensiv ist, dass ein Teil des Vermögens bereits für Ausgaben, die mit der Pflege zusammenhängen, aufgebraucht wurde. Wir wissen, dass die pflegebedürftige Bevölkerung älter ist als die Vergleichsbevölkerung. Das heißt, wir befinden uns hier schon in der späteren Phase des Lebens und ein weiterer wichtiger Faktor an dieser Stelle ist, dass viele dieser Pflegebedürftigen Frauen sind, die allein leben. Frauen haben typischerweise weniger Vermögen als Männer und im hohen Alter allein lebend vieles von diesem Vermögen aufgebraucht. Das mag ein Grund sein, warum wir hier so große Vermögensunterschiede zwischen diesen beiden Gruppen finden.

5. Die PV gewährt nur einen Zuschuss zu den Pflegekosten. Inwieweit können die betroffenen Haushalte die Gesamtkosten aus ihrem laufenden Einkommen finanzieren?

Da muss man differenzieren. In den Privathaushalten sehen wir, dass der Teil der Personen, die tatsächlich Hilfe zur Pflege in Anspruch nehmen muss, bei unter acht Prozent liegt. Das ist keine niedrige Quote, aber doch deutlich niedriger als bei Pflegepersonen in stationären Einrichtungen. Dort sind die Zuzahlungen sehr viel höher und der Zuschuss der Pflegeversicherung ist relativ gesehen kleiner, und dort ist die Quote der Inanspruchnahme der ergänzenden Sozialhilfe auf über 40 Prozent gestiegen.

6. Müssten die Leistungen der PV der Kostensituation und Preisentwicklung angepasst werden?

Um das Versorgungsniveau zu halten, müsste die Pflegeversicherung der Preis- und Lohnentwicklung entsprechen, ansonsten entwertet sich der Zuschuss immer stärker. Diese Situation hatten wir seit 1995 bis 2008. Seit 2008 wurden die Leistungen in mehreren Schritten erhöht. Ab 2015 sind wir jetzt in eine Dynamisierung eingestiegen. Das bedeutet, dass im Prinzip alle drei Jahre die Sätze entsprechend der Preisentwicklung angepasst werden müssen. Hier wäre es vielleicht besser gewesen, diese Preisentwicklung vorwegzunehmen. Die Preissteigerung wird jetzt zwar nach drei Jahren ausgeglichen, das läuft aber der Preisentwicklung immer hinterher. Das ist auf jeden Fall besser, als die Sätze immer konstant zu halten; diese Regelungen werden aber sicher noch Gegenstand von weiteren Reformen sein.

Das Gespräch mit Dr. Johannes Geyer führte Erich Wittenberg. Das Interview ist im DIW Wochenbericht Nr. 14+15 (2015) erschienen. Es kann hier auch als Audioaufnahme angehört werden.
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