Die Synchronisation der Hirnaktivität beruht demnach eher auf den kommunikativen Fähigkeiten der Anführer und weniger darauf, wie viel sie reden. In einer Gruppe gleichberechtigter Individuen wird also meist der der Anführer, der zur richtigen Zeit das richtige sagt.
Nur wenige menschliche Gesellschaften kommen ohne Anführer aus. Schon in kleinsten Gruppen kristallisiert sich nach kurzer Zeit eine Führungspersönlichkeit heraus. Aufgrund theoretischer Überlegungen vermuten Wissenschaftler, dass Anführer ihre Gehirnaktivität mit der ihrer Gefolgsleute synchronisieren. Ob das aber tatsächlich geschieht, war bislang unklar.
Für ihre Untersuchung haben die Max-Planck-Wissenschaftler und Forscher aus China und den USA Gruppen von drei Personen – jeweils entweder ausschließlich Studenten oder Studentinnen – wenige Minuten über ein anspruchsvolles moralisches Dilemma diskutieren lassen. Parallel dazu haben sie die Hirnaktivität aller Mitglieder mittels funktionaler Nahinfrarotspektroskopie gemessen. Bei diesem Verfahren trifft Infrarotlicht durch den Schädelknochen hindurch auf das Gehirngewebe. In aktiveren Bereichen ist mehr Sauerstoff-reiches Blut vorhanden, das das Infrarotlicht stärker absorbiert. Anhand der unterschiedlichen Absorption des Lichts konnten die Forscher besonders aktive Gehirnbereiche identifizieren. Nach dem Gespräch wählten die Gruppenmitglieder und externe Beobachter, die die aufgezeichneten Diskussionen beurteilten, jeweils einen der Teilnehmer zum Gruppenleiter. In den meisten Fällen fiel die Wahl der Internen und Externen auf dieselbe Person.
Die Ergebnisse zeigen, dass die Gehirne der Gruppenmitglieder schon während der Diskussionen eine Entscheidung getroffen hatten: Während des Gesprächs beginnt der linke temporoparietale Übergang im Gehirn der Gruppenmitglieder im Gleichklang mit dem des Anführers aktiv zu sein. Synchrone Aktivität in diesem Teil des Gehirns zwischen verschiedenen Personen erlaubte sogar eine Vorhersage, wer zum Anführer einer Gruppe gewählt wird und wann sich seine Anführerschaft herausbildet.
Der temporoparietale Übergang liegt zwischen dem Schläfen- und Scheitellappen der Großhirnrinde und ist wichtig für Empathie und das Einfühlungsvermögen in den Gemütszustand anderer. Er ermöglicht unter anderem, über die Perspektive anderer nachzudenken und deren Absichten zu erkennen. Die Studie lässt darauf schließen, dass die Synchronisation der Aktivität in diesem Gehirngebiet ein Charakteristikum für die Beziehung zwischen Anführer und Gefolgsleuten ist. Da die Wissenschaftler nur die Aktivität der linken Übergangsregion gemessen haben, ist es nicht auszuschließen, dass dies auch für ihr Gegenstück auf der rechten Seite zutrifft.
In der Studie löste verbale Kommunikation eine stärkere Synchronisierung der Gehirnaktivität aus als nonverbale Signale. Die große Bedeutung der verbalen Kommunikation ist möglicherweise eine menschliche Eigenart. Bei anderen Tieren werden meist die Individuen zum Anführer, die Stärke zeigen und dominant auftreten.
Die Forscher haben darüber hinaus festgestellt, dass es viel wichtiger ist, was ein Gruppenmitglied sagt als wieviel es spricht. Anführer haben zwar genauso häufig die Diskussionen in Gang gesetzt, die von ihnen gestarteten Diskussionen hatten aber eine stärkere Synchronisierung im temporoparietalen Übergang zur Folge. Es kommt also auf die Qualität der Kommunikation an. Wer also einfach nur mehr redet, wird nicht unbedingt der Anführer.
Die Synchronisierung erfolgt in beide Richtungen, vom Anführer zu seiner Gefolgschaft ist sie jedoch deutlich stärker. Wenn Anführer die Diskussion lostreten, dann berücksichtigen sie die Standpunkte der anderen für die eigenen Beiträge. In dieser kurzen Zeitspanne synchronisieren sie ihre Gehirnaktivität mit der der anderen. „Anführer qualifizierten sich durch das, was sie sagen, und wann sie es sagen", erklärt Jing Jiang, Doktorandin am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften.
Interessanterweise haben sich Sprachareale des Gehirns während der Versuche nicht miteinander synchronisiert. Diese wäre zu erwarten gewesen, wenn diejenigen zum Anführer einer Gruppe geworden wären, die am häufigsten Diskussionen begonnen und am meisten zu ihnen beigetragen haben. Das stützt zusätzlich die Vermutung, dass die Qualität der Kommunikation und nicht die Quantität entscheidend dafür sind, wer zum Anführer einer Gruppe gewählt wird. „Die verbalen Kommunikationsfähigkeiten sind aber möglicherweise nicht der einzige Faktor, auch andere Eigenschaften könnten eine Rolle spielen, zum Beispiel persönliches Charisma oder Durchsetzungsfähigkeit", sagt Jiang.
Mit ihren Erkenntnissen sind die Wissenschaftler einen fundamentalen Schritt vorangekommen, das Verhältnis von Gruppenleitern und ihren Mitarbeitern zu verstehen. Zu klären bleibt, wie weit die Resultate verallgemeinert werden können. Andere Faktoren könnten beispielsweise die Auswahl eines Anführers bestimmen, wenn eine Gruppe nicht so homogen zusammengesetzt ist, sondern aus Mitgliedern unterschiedlichen Geschlechts, Alters oder sozialem Status besteht. (MPI)
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