Demnach registriert Merlin in einer Zelle, ob und in welche Richtung sich eine Nachbarzelle bewegt, und bringt die Zelle dazu, in dieselbe Richtung zu kriechen. Dass sich Zellen als geschlossene Gruppe bewegen, ist wichtig, damit etwa Wunden gut und schnell verheilen. Ist die Gruppendynamik gestört, werden aber nicht nur Wunden schlechter verschlossen, auch Krebszellen können sich dann leichter im Körper ausbreiten oder Embryos entwickeln sich gestört.
Dem Körper sagt nicht immer der Kopf, wo es lang geht. Die Zellen der Haut etwa finden auch von alleine den richtigen Weg. Wenn in der Haut ein Riss klafft, bewegen sich die Zellen, die am nächsten an der Wunde sitzen, in die Lücke, und ihre Nachbarn ziehen einfach mit. So läuft es zumindest, wenn Merlin seine Aufgabe ordentlich erfüllt. Tun sie das nicht, vagabundieren die einzelnen Zellen orientierungslos durch das Gewebe. Das könnte möglicherweise sogar dazu führen, dass eine Wunde eine besonders auffällige Narbe hinterlässt oder gar nicht verheilt.
Und handelt es sich bei den einzelgängerischen Zellen sogar um Tumorzellen, können sich diese im Körper leichter ausbreiten, sodass sich Metastasen bilden. „Einzelne Zellen, die sich ungeordnet bewegen – in denen also das tumorhemmende Protein Merlin zumindest teilweise ausgeschaltet oder nicht vorhanden ist – können leichter in Gewebe eintreten, als geordnet als Gruppe von mehreren Zellen", sagt Joachim Spatz, Direktor am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme und Leiter der aktuellen Studie.
Eine Zelle kann zehn hinter ihr aufgereihte Zellen mitziehen
Molekularmediziner wussten bereits, dass Merlin die Ausbreitung von Tumorzellen hemmt. Joachim Spatz und sein Team haben nun aufgeklärt, woran das liegt. Das Protein wirkt nämlich als Zellbremse. Denn in ruhenden Zellen sitzt Merlin im Zellkortex, einer proteinreichen Schicht an der Innenseite der Zellmembran, und zwar an einem Proteinkomplex, über den sich benachbarte Zellen berühren. Solange Merlin dort andockt, hemmt es auch das Protein Rac1, das eine Zelle in Bewegung setzt. Bewegt sich eine Zelle, zieht sie über den Kontakt auch an der Nachbarzelle, genauer gesagt an dem Proteinkomplex, an dem Merlin gebunden ist.
So entsteht eine mechanische Spannung, die Merlin aus der Parkposition im Kortex löst. Das Eiweiß wandert dann ins Zellplasma und blockiert nun auch Rac1 nicht mehr. Damit wird die Zellbremse gelöst: Das Rac1-Protein bildet nun in Richtung der Vorreiter-Zelle Zellfortsätze, sogenannte Lamellipodien. Diese Fortsätze ziehen den Zellkörper hinter sich her. Auf diese Weise kann eine Zelle zehn andere Zellen, die hinter ihr aufgereiht sind, anführen und mitziehen.
Dass dieser sowohl biochemische als auch mechanische Mechanismus den Herdentrieb der Zellen steuert, haben die Forscher um Joachim Spatz herausgefunden, indem sie die Bewegung von Hautzellen untersuchten. Zu diesem Zweck markierten sie Merlin in den Testläufern mit fluoreszierenden Proteinen, sodass sie dessen Wege durch die jeweilige Zelle verfolgen konnten.
Da die Forscher nun besser verstehen, wie sich Zellen als Gruppe bewegen und wann sie ihre eigenen Wege gehen, könnten sich auch neue Ansätze in der Medizin ergeben. So liefern die Erkenntnisse der Stuttgarter Forscher Hinweise, wie sich Störungen bei der Wundheilung beheben lassen oder wie die Metastasierung von Tumoren reduziert werden könnte. Sie helfen aber auch Entwicklungsbiologen beim Verständnis, wie Zellen den ihnen zugedachten Ort in einem Embryo finden. Denn solche Vorgänge steuern nicht Zauberkräfte, sondern das Zusammenspiel von Biochemie und mechanische Kräfte.
(MPI - LG/PH)
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