| Bildquelle:

Tübingen:

Das Indogermanische kam aus der Steppe - Studie zeigt Einfluss frühbronzezeitlicher Wanderungsbewegungen auf die Entwicklung der Sprache

Stand: 02.03.15 21:57 Uhr

02.03.2015. Fast drei Milliarden Menschen sprechen heute eine der 445 Sprachen, die der indoeuropäischen Sprachfamilie zugerechnet werden. Dazu gehören auch Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Griechisch, Iranisch und Russisch. Die Ähnlichkeit dieser in Eurasien weitverbreiteten Sprachen wurde bereits vor 200 Jahren erkannt. Ihre Herkunft und Ausbreitung liegt jedoch noch weitestgehend im Dunkeln. In einer nun im Wissenschaftsmagazin Nature erschienenen Studie, an der auch die Universität Tübingen beteiligt war, fand ein internationales Forschungsteam jetzt Hinweise: Demnach gab es vor 4.500 Jahren eine massive Wanderungsbewegung von Menschen aus den eurasischen Steppengebieten nach Europa. Das könnte einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der indoeuropäischen Sprachen gehabt haben.

Das Team unter Leitung der Harvard Medical School in Boston, USA, und des Australian Centre for Ancient DNA der Universität Adelaide fand Hinweise auf eine massive Wanderungsbewegung von Menschen aus den eurasischen Steppengebieten vor circa 4.500 Jahren, die Einfluss auf die Verbreitung einiger indoeuropäischer Sprachgruppen gehabt haben muss.

Die neue Studie steht damit zumindest teilweise im Widerspruch zu einer der populärsten Thesen über den Ursprung der indoeuropäischen Sprachen, die besagt, dass der Urahn dieser Sprachen mit den frühen Bauern vor mehr als 8.000 Jahren aus dem Nahen Osten nach Europa kam.

Neue Technik zur effizienteren Gensequenzierung

Die neue Studie beruht auf einer bisher einmaligen Datenbasis: Im Vergleich zu bislang vorliegenden Studien wurden mehr als doppelt so viele Genome prähistorischer Europäer sequenziert. „Das spiegelt einen grundlegenden Fortschritt in der DNA-Forschung wider, der es möglich macht, gleichzeitig die Genome Dutzender von Individuen zu testen", sagt Projektleiter Professor David Reich von der Harvard Medical School, dem Broad Institute und dem Howard Hughes Medical Institute.

„Wir haben eine neue Technik entwickelt, die es uns erlaubt, die Teile des Genoms zu isolieren, welche die meisten Informationen über die Menschheitsgeschichte enthalten, und haben nur diese Abschnitte sequenziert." Die Proben für die Studie wurden von einem internationalen Team unter maßgeblicher Beteiligung der Universitäten Mainz, Basel und Tübingen, dem Landesamt für Vorgeschichte in Halle sowie dem neuen Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena zusammengestellt.

Besonders viele Proben stammen aus Sachsen-Anhalt, wo beim Bau von ICE-Trassen und Bundesstraßen wertvolle Neufunde gemacht wurden, deren genetische Analyse auch von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziell unterstützt wurde.

Gemeinsame Herkunft der frühen Bauern

Insgesamt wurden die Gene von mehr als 90 Individuen sequenziert, die zwischen 3.000 und 8.000 Jahren vor heute in Europa lebten. Bei der Analyse der Datensätze kristallisierten sich zwei wesentliche Bevölkerungsumbrüche heraus: Der erste Umbruch geht auf die Ausbreitung der frühen Bauern über ganz Europa zurück. Sie zogen vor mehr als 9.000 Jahren aus dem Nahen Osten gen Westen und wurden bereits vor rund 7.500 Jahren in Mittel- und Westeuropa sesshaft. Diese Bevölkerungsgruppe unterscheidet sich genetisch deutlich von den damals in Europa lebenden Jägern und Sammlern.

Archäologisch wurden bisher zwei unterschiedliche Wanderungsrouten der Bauern beschrieben, welche im Wesentlichen auf Unterschieden im materiellen Fundgut wie zum Beispiel Keramiken aus dem Mittelmeerraum und dem mittel- und nordeuropäischen Inland beruhen. „Die genetischen Daten bestätigen dies jedoch nicht", sagt der Erstautor der Studie, Dr. Wolfgang Haak von der Universität Adelaide. „Die frühen Bauern aus Spanien, Deutschland und Ungarn sind genetisch nahezu identisch, was auf einen gemeinsamen Ursprung im Nahen Osten schließen lässt."

Die Jäger und Sammler sind jedoch nicht komplett verschwunden. „Um 6.000 bis 5.000 Jahren vor heute sehen wir einen Wiederanstieg des Jäger-Sammler-Anteils im Genom", sagt der Co-Erstautor Dr. Iosif Lazaridis von der Harvard Medical School. „Das bedeutet, dass Jäger-Sammler-Gesellschaften noch bis lange nach Ankunft der Bauern bestanden haben müssen." Der Autor Professor Kurt Alt von der Universität Basel und der Privatuniversität Krems fügt hinzu: „Es zeigt aber auch, dass die Jäger und Sammler nach und nach in bäuerliche Gemeinschaften integriert wurden."

Die Wanderungsbewegung aus dem Osten

In ihren früheren Arbeiten hatten einige derselben Autoren auf die Zusammensetzung der Gene aller Europäer aus hauptsächlich drei Linien von Ahnen hingewiesen: ein bisschen Jäger und Sammler, ein bisschen frühe Bauern, und eine dritte Komponente zeigte Ähnlichkeit zu Sibirern und gar den ersten Indianern Amerikas. Genomdaten von Frühbauern hatten gezeigt, dass dieser dritte Anteil zu dieser Zeit noch nicht in Europa vorhanden war und daher erst später hinzugekommen sein konnte – wann und wie, das ist jedoch unklar.

„Es war ein echtes Aha-Erlebnis, als wir die ersten Daten ansahen", berichtet Lazaridis. „Der dritte Anteil war in jedem Individuum zu finden, das jünger als 4.500 Jahre war, jedoch in keiner der älteren Proben aus Mitteleuropa." Haak geht sogar noch weiter: „Das Signal ist so stark, dass man fast von einer genetischen Datierung sprechen könnte, basierend auf dem Vorkommen von ein, zwei oder allen drei Komponenten."

Tatsächlich fanden sich unter den Proben auch einige Ausreißer, die bisher archäologisch als älter datiert waren, allerdings die dritte Komponente aufwiesen. Zur Klärung wurden Datierungen mit der Radiokarbonmethode in Auftrag gegeben. Danach musste das Alter dieser Individuen deutlich nach unten korrigiert werden. „Sie wurden in der Tat jünger als 4.500 Jahre vor heute datiert", ergänzt Professor Harald Meller, der Direktor des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle (Saale).

In Deutschland seien es die Menschen der schnurkeramischen Kultur aus dem dritten Jahrtausend v. Chr., am Übergang zwischen Jungsteinzeit und Bronzezeit, bei welchen erstmals die dritte Komponente auftaucht und damit einen zweiten Bevölkerungsumbruch markiert, sagt Haak, „und zwar mit lautem ‚Hallo!'". „Basierend auf einem direkten Vergleich mit Individuen der Yamnaya-Kultur, das sind Viehhirten aus den eurasischen Steppengebieten, konnten wir bei den Schnurkeramikern aus Sachsen-Anhalt den genetischen Anteil von Menschen aus der Steppe auf beträchtliche 75 Prozent errechnen," sagt Lazaridis, und fügt hinzu, dass sich die Gene der Schnurkeramiker und der Yamnaya-Population trotz der geografischen Distanz von 2.600 Kilometern erstaunlich ähnlich sehen.

Indoeuropäisch aus der Steppe?

Bei einem genetischen Einschlag dieser Größenordnung drängt sich die Frage auf, ob diese Expansion auch einen Einfluss auf die Verbreitung von Sprachen hatte. „Die Ergebnisse legen nahe, dass die Schnurkeramiker nicht nur genetisch eng mit den Hirten aus der Steppe verwandt sind, sondern möglicherweise auch eine ähnliche Sprache hatten", sagt Lazaridis. „Da sämtliche Mittel- und Nordeuropäer heutzutage einen hohen genetischen Anteil der damaligen Steppenbewohner in sich tragen und zudem eine indoeuropäische Sprache sprechen, ist zumindest ein deutlicher Beitrag der Steppe nicht ausschließen", bemerkt Haak.

Das deckt sich mit der Ansicht von Linguisten, die argumentieren, dass die Sprachentwicklung schneller voranschreitet als die der Gene und für die eine hypothetische Verbreitung der indoeuropäischen Sprache mit den ersten Bauern daher einige tausend Jahre zu früh angesetzt wäre. Reich fügt hinzu: „Unsere Ergebnisse stellen die Theorie der Sprachverbreitung im Zusammenhang mit der Einwanderung der ersten Bauern in Frage. Mit der spätneolithischen Auswanderung von Menschen aus der Steppe, die einen beachtlichen Einfluss auf andere Bevölkerungsgruppen hatte, erscheint eine spätere, das heißt mehr rezente Verbreitung des Indoeuropäischen plausibel."

Die fachübergreifende Interpretation von archäologischen, linguistischen und genetischen Daten ist jedoch kontrovers. „Das ist ein heikles Thema und muss mit Bedacht angegangen werden", warnt Mitautor Johannes Krause, Direktor des neuen Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena, der zuvor an der Universität Tübingen geforscht hat. „Allerdings haben wir mit alter DNA endlich die zeitliche und genetische Auflösung, die uns hier weiterbringen kann." Im Oktober sei in Jena ein Workshop geplant, in dem sich Experten aus allen drei Fachrichtungen diesen Fragen widmen wollen.

Eine nach wie vor ungelöste Frage ist die nach dem Ursprung der indoeuropäischen Sprachfamilie. Reich, Haak und ihre Kollegen sind trotz der monumentalen Aufgabe optimistisch, dass man sich der Lösung annähern wird. Haak sagt: „Die Hauptaufgabe besteht nun darin, nach und nach die Fundlücken in unserer genetischen Kartierung zu stopfen. Wir wollen verstehen, wie ähnlich sich Bevölkerungsgruppen aus Europa, Anatolien, dem Kaukasus, Iran und Indien vor 3.000 bis 6.000 Jahren waren, um so dem potenziellen Ursprung der indoeuropäischen Sprachen näher zu kommen."

Originalpublikation:

Wolfgang Haak, Iosif Lazaridis, Nick Patterson, Nadin Rohland, Swapan Mallick, Bastien Llamas, Guido Brandt, Susanne Nordenfelt, Eadaoin Harney, Kristin Stewardson, Qiaomei Fu, Alissa Mittnik, Eszter Bánffy, Christos Economou, Michael Francken, Susanne Friederich, Rafael Garrido Pena, Fredrik Hallgren, Valery Khartanovich, Aleksandr Khokhlov, Michael Kunst, Pavel Kuznetsov, Harald Meller, Oleg Mochalov, Vayacheslav Moiseyev, Nicole Nicklisch, Sandra L. Pichler, Roberto Risch, Manuel A. Rojo Guerra, Christina Roth, Anna Szécsényi-Nagy, Joachim Wahl, Matthias Meyer, Johannes Krause, Dorcas Brown, David Anthony, Alan Cooper, Kurt Werner Alt and David Reich: Massive migration from the steppe is a source for Indo-European languages in Europe. Nature, Advance Online Publication, 2. März 2015, DOI 10.1038/nature14317.

WERBUNG:



Seitenanzeige: