Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka | Bildquelle: RTF.1

Tübingen:

"Narzissten des Todes": Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka über ISIS und Boko Haram

Stand: 20.12.14 23:51 Uhr

Boko Haram heißt auf Deutsch "Bücher sind Sünde". Die terroristische Gruppe kämpft im Norden Nigerias für die Einführung der Scharia und für ein Bildungsverbot. Der Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka kommt aus Nigeria. Seine Eltern waren überzeugte Christen. Weil er sich während des Biafra-Krieges für den Frieden in seinem Heimatland eingesetzt hatte, saß er im Gefängnis. Diese Woche war er in Tübingen zu Gast, um über die derzeitige Lage in seinem Heimatland zu berichten.


Boko Haram, so begann Wole Soyinka seinen Vortrag, sei keine Selbstbezeichnung. Vielmehr habe das Volk von Nigeria die Terrorgruppe als das bezeichnet, was sie sei: als Feind der westlichen Bildung. Beim Islamischen Staat sei das anders, denn es sei gar kein Staat.

"Er ist nicht islamisch", sagte Soyinka. "Es sind Mörder und nicht Krieger Allahs oder irgendeiner anderen bekannten Gottheit; sie sind kein Teil der Nation des Islam, sondern Krieger der Verdammung. Die Frage, der wir uns früher oder später stellen müssen, ist: Sind sie überhaupt ein Teil der Menschheit?"

Die ISIS rekrutiere weltweit junger Männer und indoktriniere sie religiös. So würde ihnen eine Heilsvorstellung eingeimpft. Danach seien sie Bürger eines Königreichs des Himmels auf Erden. Es ginge ihnen nicht um den Islam, sondern um Machterhaltung, um Überheblichkeit, um das Gefühl, zu den Auserwählten zu gehören. So seien die Massenhinrichtungen zu erklären, dass sie von Haus zu Haus zögen, die Bewohner namentlich aufriefen und sie abschlachteten, sie sogar im Schlaf töteten unabhängig von ihrer Religion.

Der sogenannte Islamische Staat sei also ein Staat, in dem es keine Einschränkungen gibt, in dem die jungen Männer ihren untersten Instinkte nachgehen könnten – legitimiert als Krieger Allahs.

"Man muss sich in seine Gedanken versetzen", so Soyinka. "Und seine Gedanken sagen: 'Mein Staat hat seine Gesetze angewendet, seine Rechte als Staat wie jeder andere Staat auch, nämlich einen Feind hinzurichten.' Diese Gedanken sind befreit von der optionalen Sichtweise, wonach ein Haufen Psychopathen einen Unschuldigen ermordet hat. Nein, seine Lesart ist: Meine Nation hat berechtigterweise einen Verräter getötet."

Die Bezeichnung als Staat bleibe Boko Haram bisher verweigert. Dass diese Gruppierung in Nordnigeria so mächtig wurde, dafür macht Soyinka aber auch die Politik verantwortlich.

"Es gab eine Zeit, als Boko Haram eingedämmt hätte werden können", mahnte er. "Aber wegen der Individualisten im Bundesstaat Borno und sogar der nigerianischen Bundesregierung konnte sich eine Politik der Straflosigkeit durchsetzen, bis Boko Haram die tödliche Bedrohung wurde, die sie heute ist."

Aber eines Tages würde Boko Haram besiegt werden. Doch was Boko Haram ausmacht, das ist längst in vielen anderen Erscheinungsformen präsent wie Al-Qaeda oder ISIS. Sie versuchten miteinander zu konkurrieren in ihrer Tödlichkeit, eingefangen in einer perversen Form von Selbstliebe.

"Die Welt ist konfrontiert mit den Narzissten des Todes. Schaut sie euch an, wie sie posieren für ihre ikonischen Fotos, bevor sie ausziehen, um sich mit einer letzten scheußlichen Tat ihr sogenanntes Martyrium zu verdienen."

Wie weit sind diese Narzissten des Todes bereit zu gehen? Soyinka sieht sie in einer ganz verhängnisvollen Tradition. Von der gegenseitigen nuklearen Bedrohung des Kalten Krieges zur einseitigen Bedrohung durch religiösen Fanatismus.

"Das sind die Erben der wahnsinnigen Ära des Kalten Krieges", sagte Soyinka. "Es ist unter den Regierungen kein Geheimnis, dass sogar diese selbsternannten religiösen Primitivisten alles opfern würden, um das Ultimative der Ungläubigen-Wissenschaft zu erhalten: die Atombombe."

Damit würden die religiösen Fanatiker ihr Ziel erreichen, nämlich die Vernichtung der Menschheit. Dieser bliebe nur eine Reaktion: "Verdammt, wenn ihr es tut – verdammt, wenn ihr es nicht tut." Oder: "Zerstöre, oder ihr werdet zerstört."

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