Oberbürgermeister Thomas Keck | Bildquelle: RTF.1

Reutlingen:

Oberbürgermeister Thomas Keck im Jahresinterview

Stand: 07.01.23 14:45 Uhr

Es sind vier Krisen, die für die Stadt Reutlingen das Jahr 2022 geprägt haben. Zunächst die Haushaltskrise, die in Reutlingen schon seit mehreren Jahren schwelt. Dann kam Corona als zweite Krise, und Reutlingen wurde zur Hochburg der Demonstrationen durch Gegner der Pandemie-Bekämpfungsmaßnahmen. Der Ukraine-Krieg hat zwei weitere Krisen ausgelöst: Zum einen die Energiekrise und jetzt auch eine Flüchtlingskrise, die sich dadurch verstärkt, dass längst auch wieder Geflüchtete aus anderen Ländern als der Ukraine in Reutlingen ankommen. Unser Rückblick und Ausblick für die Stadt Reutlingen.


Es ist eine lange Durststrecke für die chronisch klamme Stadt. Reutlingen muss an allen Ecken und Enden sparen. Zuerst ein Gewerbesteuer-Einbruch im Jahr 2019, und dann kam Corona.

"Die Liquidität ging auf null. Nach drei brutalen Konsolidierungsrunden – wir haben die Verwaltung wirklich ausgezogen bis auf die Knochen, es gibt keinerlei Reserven mehr – sehen wir jetzt einen Schimmer am Horizont", erklärt Oberbürgermeister Keck.

Das Jahr 2023 werde noch einmal schwierig. Dann sei Erholung in Sicht. Die Prognosen für die weitere Zukunft stehen günstig: Im gemeinsamen Gewerbegebiet mit Kirchentellinsfurt arbeitet die Porsche-Tochter Cellforce gerade mit Hochdruck an einer Akku-Fabrik für Elektroautos. Schon im kommenden Jahr soll hier produziert werden. Im vergangenen Jahr war Grundsteinlegung.

"Auf diese Ansiedlung bin ich wirklich stolz. Das hat man statistisch gesehen als Bürgermeister alle 30 bis 40 Jahre; also einmal in der Amtszeit ein solches Ding mit 230 Arbeitsplätzen, das ist schon was", so Keck.

Zukunftsträchtige Unternehmen werden auch auf dem ehemaligen Willi Betz-Gelände im Gewerbepark RT unlimited angesiedelt. Und auch die Firma Bosch machte im vergangenen Jahr mit einem Bekenntnis zum Standort Reutlingen und mit einem Zukunftsprojekt von sich reden. Masterplan Bosch, heißt das Projekt: "Es wird Win-Effekte für Bosch geben, und es wird Win-Effekte für Reutlingen geben. Es werden Flächen frei an der Bantlinstraße und Bosch wird die Echaz, die mitten durch das Betriebsgelände fließt und bisher unzugänglich war, aufmachen." Das kommt nicht nur der Attraktivität der Stadt zugute, sondern auch dem Hochwasserschutz.

Corona hatte in Reutlingen vor allem Anfang des Jahres noch eine Rolle gespielt. Doch nach und nach waren fast alle Pandemie-Bekämpfungsmaßnahmen ausgelaufen. Nur die Gegner dieser Maßnahmen, die dagegen demonstriert hatten, demonstrieren immer noch. Jeden Samstag-Abend marschiert der Protestzug nach wie vor durch die Innenstadt.

"Es geht nicht mehr um Corona, was ich so erlebe, geht es um die Ablehnung alles Staatlichen, also dieser Staat ist irgendwie schlecht, heißt es, und alles, was vom Staat kommt, muss bekämpft werden. Ich kann da nicht mitgehen und bleibe meinem stringenten Kurs treu. Das ist nichts, worauf man eingehen kann. Und ich lebe auch mit Sprechchören wie „Keck muss weg" wie beim vorvergangenen Samstag auf der Demo."

Währenddessen hat sich das städtische Leben in Reutlingen weitestgehend normalisiert. Auch Veranstaltungen wie beispielsweise der Schwörtag oder der Reutlinger Herbst konnten so stattfinden, wie man es vor der Pandemie gewohnt war.

Dafür bestimmte ein anderes Thema die Politik auf allen Ebenen von der internationalen Bühne über Bund, Land und Landkreis bis ins Reutlinger Rathaus: der Angriffskrieg auf die Ukraine. Er sorgte für eine Welle der Hilfsbereitschaft, allen voran eine Hilfsaktion der drei Musketiere. Aber er beschwor auch zwei neue Krisen herauf: eine Energiekrise und eine neue Flüchtlingskrise. Die Stadtverwaltung musste reagieren.

"Wir haben die Wassertemperatur und die Raumtemperatur in Hallenbädern abgesenkt, dort, wo kein Schwimmsport bzw. Schulsport stattfindet. Unsere öffentlichen Saunen, die erdgasgestützt sind, sind geschlossen. Es kommt wirklich auf die Einsparung jeder Kilowattstunde an."

Für die Flüchtlinge aus der Ukraine hatte die Stadt im März in der Festhalle Mittelstadt eine Notunterkunft eingerichtet. Mittlerweile ist hier die Anschlussunterbringung, also Dauerunterbringung. Diese ist komplett belegt. Denn es kommen mittlerweile nicht nur Geflüchtete aus der Ukraine sondern jetzt wieder verstärkt über die Balkanroute. Weitere Hallen in Sondelfingen, Rommelsbach und Bronnweiler stehen bereit.

"Und dann kann ich nur noch Zelte aufstellen. Wenn das so weitergeht, werde ich mich irgendwann als Oberbürgermeister öffentlich weigern müssen, weitere Flüchtlinge aufzunehmen, weil ich sie dann in Zelten unterbringen muss. Und das finde ich unwürdig."

Doch neben Haushalt, Corona, Energie und Flüchtlinge erforderten auch andere Dinge dringendes Handeln. So die Häuserzeile in der Oberamteistraße. Anfang 2023 soll es mit der Sanierung endlich losgehen. Die Zeit drängt, denn zwei größere Erdbeben im Jahr 2022 hatten Spuren hinterlassen.

"Sie sind wirklich vom Einsturz bedroht. Ich kann nicht garantieren, dass ein weiteres Erdbeben nicht zum Einsturz der Gebäude führt. Aber ich bin ein sehr geschichtsbewusster Mensch und ich bin der festen Überzeugung, dass wir ein Stück Stadtgeschichte an die, die nach uns kommen, weitergeben müssen."

Kulturelles Highlight im vergangenen Jahr waren für Oberbürgermeister Keck die Konzerte der Württembergischen Philharmonie – vor allem in diesem Konzertsaal der Stadthalle Reutlingen, die am Freitag zehn Jahre alt geworden ist: "Dieser Saal hat eine Nachhallzeit, die an den Wiener Musikverein heranreicht. Es ist gigantisch und das Orchester ist von ganz herausragender Qualität."

Und seit dem vergangenen Jahr ist Ariane Matiakh die neue Chef-Dirigentin. Wer diese Frau dirigieren sehe, dem gehe das Herz auf, so Oberbürgermeister Keck, der die neue Dirigentin als Geschenk des Himmels bezeichnete.

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