Straßentheaterprojekt "Hierbleiben...Spuren nach Grafeneck" | Bildquelle:

Gomadingen-Grafeneck :

Inklusives Theaterprojekt „Hierbleiben... Spuren nach Grafeneck“

Stand: 27.07.21 16:58 Uhr

10.654 - genau so viele Menschen mit Beeinträchtigung aus insgesamt 49 Orten wurden 1940 in den berüchtigten „grauen Bussen“ nach Grafeneck deportiert, um sie im Anschluss mithilfe des Gases Kohlenmonoxyd zu ermorden. Das inklusive Theaterprojekt „Hierbleiben... Spuren nach Grafeneck“ will an diese Menschen erinnern und tourt mit dem Theaterstück aus dem Hause Tonne in Reutlingen an die Orte, aus denen einige der Ermordeten von damals stammten. Am Dienstagvormittag trat das Ensemble am Ort der Euthanasie-Verbechen auf - direkt vor dem Schloss Grafeneck.


Die Geschichte um Grafeneck habe ihn und andere schon länger beschäftigt, erklärte Intendant und Regisseur des Theaters Tonne, Enrico Urbanek. Das Reutlinger Theater Tonne hat bereits seit vielen Jahren ein inklusives Ensemble – die Idee, das Stück „Hierbleiben... Spuren nach Grafeneck" als inklusives Theaterprojekt anzulegen war daher naheliegend.

Das Stück sollte aber nicht nur in Reutlingen aufgeführt werden.

Deshalb tourt das Ensemble mit seinem Stück an verschiedene Herkunftsorte der Menschen, die damals in Grafeneck ermordet wurden. An diesem Tag wird das Stück vor dem Schloss Grafeneck selbst aufgeführt. Eine bedrückende Stimmung, auch im Publikum.

Auch für einige Darsteller war es nicht leicht, das Thema zu bearbeiten.

Santiago Österle beispielsweise hatte sich viele Jahre mit den Gräueltaten der Nazis beschäftigt und mit dem Thema eigentlich abgeschlossen, wie er sagt. Dennoch hat er sich am Ende für das Stück entschieden: "Und ich musste das für mich auch erst einmal emotional verarbeiten, dass ich sagen konnte: 'ok, wir tun das in einer Sache, wir tun das für die Menschen, die umgekommen sind, wir tun das als Bildungsauftrag.'"

Außerdem war es ihm auch wichtig, die Geschichte von Grafeneck mehr ins Bewusstsein zu rücken. Er fand es erschreckend, dass immer über Auschwitz geredet werde, aber nie über die anderen Lager, nie über Grafeneck. "Weil das war das Fundament, der erste Stein, der ins Rollen kam. Hier wurden die ersten Versuche gemacht, was die Vergasung anging, um die dann im großen Stile fortzuführen."

Die Geschichte sowie deren Opfer werden im Stück auf eindrucksvolle Weise dem Publikum näher gebracht. Die Emotionen der Darsteller übertragen sich da direkt aufs Publikum.

So erzählt eine Zuschauerin, dass sie die Geschichte von Grafeneck bereits kenne, aber durch das Theaterstück habe sie noch einmal einen ganz anderen Zugang bekommen. "Auf einer emotionaleren Ebene."

Auch einigen Politikern, die ebenfalls vor Ort waren, ging es da nicht anders.

Mike Münzing, der Bürgermeister von Münsingen, erzählt: "Jetzt mache ich hier in Grafeneck seit über 20 Jahren Gedenkstätten-Arbeit und so eindrücklich wurde die Geschichte der Opfer in Grafeneck und dieser T4-Aktion noch nie dargestellt." Schon allein der Einstieg in das Theaterstück, wo der Hinweis, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler sich Gedanken machen würden, dass sie möglicherweise vor vielen Jahren hier selbst Opfer geworden wären in Grafeneck, mache ihn betroffen.

Die Bundestagsabgeordnete der Linken, Jessica Tatti, fand es ebenfalls sehr bewegend. "Also ich muss sagen, es hat mich wirklich sehr berührt, und ich finde es großartig, dass das eben auch aufgegriffen wird, dass man sich auch entsinnt, was für grausame Orte es in der Geschichte auch gibt."

Berührt zeigt sich ebenfalls der Reutlinger CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Donth: "Diese Zahl hat sich bei mir eingebrannt - 10.654 Menschen, die hier umgebracht, ermordet wurden." Und das hätten die Menschen hier wieder präsent gemacht. "Ich bin zutiefst beeindruckt. Mir blieb zwischendurch auch mal die Stimme weg, muss ich ehrlich sagen."

Die Stimme blieb den Darstellern zum Glück nicht weg – im Gegenteil. Mit einer unerschütterlichen Vehemenz fordern sie vor allem eines: Respekt.

Santiago Österle wünscht sich beispielsweise nicht nur Barrierefreiheit, sondern vor allem, dass andere Menschen auf ihn zukommen. "Mir ging es in der Schulzeit so, dass ich in einer körperbehinderten Schule war, und hätte ich nicht von selber den Kontakt gesucht mit nicht-beeinträchtigten Menschen - man wäre immer im gleichen Klüngel geblieben."

Mehr Berührungspunkte zwischen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung müssen geschaffen werden, so Österle weiter. Den Wegfall der Zivildienstleistenden findet er aus diesem Gesichtspunkt sehr schade.

Auch Regisseur Urbanek betont: "Meine Darsteller sagen immer, ich möchte eigentlich gar nicht mehr drüber reden. Ich möchte aber auch nicht auf den Präsentierteller gehoben werden, ich möchte gerne, dass die Leute auf mich zugehen und das ist das, was wir machen. Wir gehen auf die Leute zu."

Genauso wichtig wie das Theaterstück selbst, sei deshalb auch die Begegnung und die Gespräche im Anschluss an das Stück, so Urbanek.

Wer das inklusive Straßentheaterprojekt selbst sehen möchte, hat noch an sechs weiteren Terminen im Herbst die Gelegenheit dazu. Den Tourplan finden Sie unter www.spuren-nach-grafeneck.de.

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