Boris Palmer nach dem Wahlsieg | Bildquelle: RTF.1

Tübingen:

61,7 Prozent-Triumph. Palmer: Mit "ökologisch-sozialer Reformpolitik" sind Wahlen zu gewinnen

Stand: 20.10.14 19:20 Uhr

Ministerpräsident Winfried Kretschmann nannte ihn gestern einen der klügsten Köpfe, den die grüne Partei habe. Wahr ist zudem: Tübingen und Boris Palmer - das passt offenbar gut zusammen. Anders ist der überraschend deutliche Ausgang der OB-Wahlen in Tübingen gestern nicht zu deuten. Entgegen der Erwartungen vieler Beobachter triumphierte der nicht immer pflegeleichte grüne Realo bereits im ersten Wahlgang mit mehr als 60 Prozent der Stimmen. Palmer sieht sich damit auch in seinem Kurs einer Reformpolitik bestätigt, die wirtschaftliches Wachstum und sozialen Ausgleich mit den Bedürfnissen einer intakten Umwelt verbindet. Dass Ergebnis zeige, dass es möglich sei, mit der Verbindung von Wirtschaft und Ökologie - mit einer "sozial-ökologischen Wohlstandspolitik" - Mehrheiten zu gewinnen.

19 Uhr 10, Mensa Uhlandstrasse, Medienzentrum und Ersatzbürgersaal: Ankunft eines Triumphators: 61,7 Prozent Tübinger Stimmen im ersten Wahlgang, ein Plus von mehr als zehn Prozent, die von CDU und FDP gestützte Konkurrentin Beatrice Soltys mit 33,2 Prozent vernichtend geschlagen. Nur wenige hatten mit einem solchen Ergebnis für den grünen Partei-Rebellen gerechnet, der immer kantig, immer strategisch kluger Vordenker ist; aber eben auch einer, der zuweilen undiplomatisch sein kann.

Wie kürzlich - da ging es um mehr Plätze für Flüchtlinge - als Palmer den Tübinger Landrat und CDU-Politiker Joachim Walter mit der Bemerkung attackierte, dass diesem der Geldbeutel mehr bedeute als das Wohl verfolgter Flüchtlinge. Walter hatte zudem den Esslinger Landrat Heinz Eininger in Schutz genommen, der kürzlich die Aufnahme weiterer Flüchtlinge verweigern wollte. Ein Umstand, den Palmer mit den Worten kommentierte, dass Walter seinen Kollegen besser auf dessen Amtseid hingewiesen hätte.

Für den 42jährigen grünen Realo, dem seine eigene Partei vor nicht allzu langer den Einzug in den Parteirat verweigerte, weil er zuvor unter anderem gegen das grüne Steuer-Erhöhungskonzept im Bundestagswahlkampf zu Felde zog, stand bei der OB-Wahl fast alles auf dem Spiel. Am Wahlabend konnte sich bei Palmer diese Anspannung sichtlich entladen. Zugleich - eine weitere Wirkung des Wahlabends- darf er sich in seinem ureigenen, oft von der eigenen Partei kritisierten Kurs bestätigt fühlen. Das Programm, das er aufgelegt habe, habe einen ökologisch-sozialen Aufschwung in der Stadt befördert. Dieses Programm habe heute eine breite Mehrheit bekommen, und in den kommenden acht Jahren werde er den eingeschlagenen Kurs mit neuen Ideen fortführen.

Trotzdem: derzeit ist Palmer innerhalb seiner Partei eher aufs Abstellgleis geschoben. . Der ehemalige Grünen-Landesvorsitzende Chris Kühn bemüht sich an diesem Abend deshalb auch herauszustellen, wie wichtig eine kantige Persönlichkeit wie Palmer für die Partei sei. Solche Charaktere und viele unterschiedliche Meinungen – das sei es genau, was die Grünen brauchten, um als Parttei auch zukünftig Erfolge zu haben.

Der ökonomisch-soziale Aufschwung, den Palmer für sich beansprucht, lässt sich konkret in Zahlen fassen: 5000 neue Arbeitsplätze, 5000 neue Wohnungen, 15 Prozent mehr Wirtschaftskraft, Verdreifachung der Gewerbesteuer, die Stadt ist schuldenfrei - trotz umfangreicher Sanierungen. Und: dank der Klimaschutzkampagne „Tübingen macht blau" gibt es Pro Kopf einen 18 Prozent geringeren Co2-Ausstoss.

Fast unmöglich ist es da eigentlich zu stolpern, könnte man meinen. Aber: Palmer kann eben auch - und greift zuweilen - in die Klaviatur der harschen und der scharfen Töne. Eine Chance – so meinten hier die bürgerlichen Kräfte, von denen manche bereits von einer Abwahl Palmers träumten. Zumal zwei Ereignisse den Wahlkampf emotional gegen Palmer unerwartet befeuerten. Der zog sich mit Äußerungen über Tierversuche die Wut von Tierschützern zu. Und zwei Tage vor der Wahl ließ ein dubioser anonymer Hinweis die Öffentlichkeit und den überraschten Palmer von Ermittlungen gegen ihn wissen.

Entsprechend groß die Enttäuschung dann am gestrigen Abend. Damit habe sie nicht gerechnet, so Palmers sichtlich enttäusche Gegenspielerin Beatrice Soltys. Sie sei von einem zweiten Wahlgang ausgegangen. Jetzt aber sei es so und 21 000 Tübinger Bürger hätten sich für Palmer entschieden. Und sie habe Boris Palmer bereits herzlich gratuliert. Dem schließt sich auch CDU-Landrat Joachim Walter an. Aber er ergänzt: er wünsche sich, dass Palmer zukünftig stärker den Ratschlag des Ministerpräsidenten berücksichtige. Der hatte kürzlich im Sudhaus bemerkt: ein OB müsse integrieren und nicht polarisieren.

Indessen: Palmer sieht sich durch die Wahl im Grundsatz bestätigt. Er wolle zwar milder werden, aber in Sachfragen authentisch und wahrhaftig bleiben: Und: bei Bedarf auch zuweilen kantig . Zudem werde sein Blick auch zukünftig über Tübingen hinaus und in die eigene Partei hineinreichen, wenn er es für nötig halte. Mit Tübingen als Modellkommune und Mikrokosmos will Palmer sein bewährtes Grundkonzept mit neuen Ideen fortsetzen, das sich um den Ausgleich der scheinbar unvereinbaren Gegensätze - zwischen wirtschaftlichem Wachstum, sozialem Ausgleich und den Ansprüchen der Ökologie bemüht.

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