Corona-Virus | Bildquelle: Bild von PIRO4D auf Pixabay

Studien:

Corona-Infektion kann Hirnschäden oder Schlaganfall verursachen

Stand: 22.07.20 06:59 Uhr

Viele Corona-Patienten sind nach der akuten Erkrankung nicht beschwerdefrei. Studien beschreiben zunehmend neurologische Auswirkungenvon COVID-19. Das Spektrum reicht von Riechstörungen bis hin zu schweren Schlaganfällen. In einigen Fällen bleiben neurologische Symptome und Ausfälle zurück. Auch die Spanische Grippe führte zu bleibenden neurologischen Problemen. Handelt es sich in beiden Fällen um virusvermittelte Autoimmunreaktionen?

Viele Studien haben neurologische Manifestationen von COVID-19 beschrieben. Eine italienische Arbeit zeigte nun, dass 88% der Betroffenen nach der akuten Erkrankung nicht beschwerdefrei sind. Die Forscher gehen der Frager nach, ob sich hier virusvermittelte Autoimmunreaktionen zeigen. Eine neuroimmunologische Arbeitsgruppe der Charité fand Antikörperbefunde, die darauf hinweisen, dass sich das Immunsystem bei schwer erkrankten COVID-19-Patienten gegen körpereigene Nervenzellen richten kann.

Zahlreiche Fallberichte und Studien beschreiben mittlerweile neurologische Begleiterscheinungen bei COVID-19-Patienten. Sehr häufig sind Geruchs- und Geschmacksstörungen. Es kann aber während der Virusinfektion auch zu diffusen Hirnschädigungen (Enzephalopathien) mit neurologischen und psychiatrischen Auffälligkeiten, zu einer Entzündung von Gehirn und Rückenmark (Enzephalomyelitis) oder zu Schlaganfällen kommen. Das Kuriose dabei: Letztere treten nicht nur bei COVID-19-Patienten auf, die viele kardiovaskuläre Risikofaktoren aufweisen, sondern auch bei jungen, „gefäßgesunden" Menschen, die sich mit SARS-CoV-2 infiziert haben. In Folge der Virusinfektion können auch Erkrankungen des peripheren Nervensystems wie das Guillain-Barré-Syndrom auftreten.

Aufgrund dieser Beobachtungen spricht die internationale Fachwelt bereits von „Neuro-COVID". Eine US-amerikanische Arbeitsgruppe [1] hat Ende Juni eine Neuro-COVID-Einteilung in drei Stadien vorgelegt, die die neurologische Begleitsymptomatik nach Schweregrad einordnet. Eine Arbeit [2] aus dem Vereinigten Königreich, die Anfang Juli publiziert wurde, unterteilt die Symptomatik nach neurologischer Diagnosegruppe in fünf Klassen (1. Gehirnveränderungen (Enzephalopathien), 2. entzündliche Erkrankungen des zentralen Nervensystems, 3. Ischämische Schlaganfälle, 4. periphere neurologische Störungen und 5. sonstige zentralnervöse Störungen).

„Noch ist für einige der neurologischen Manifestationen nicht klar, wie häufig sie bei COVID-19 wirklich sind," erklärt Professor Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). „Aber selbst wenn der Anteil prozentual nur etwa dem von SARS oder MERS entspräche, ist die absolute Zahl COVID-19-assoziierter neurologischer Erkrankungen angesichts der enorm hohen Infektionsraten weltweit als hoch einzustufen, was bei der Versorgung der Patienten unbedingt Berücksichtigung finden muss."

Beunruhigend ist zudem die Erkenntnis, dass neurologische Symptome oft persistierten. Eine aktuelle Studie aus Italien [3] untersuchte, ob und welche Beschwerden bei COVID-19-Patienten nach der Klinikentlassung bestehen blieben: 87% der Erkrankten wiesen im Nachgang noch Symptome auf. Die häufigsten neurologischen Folgen waren in dieser Studie Müdigkeit bzw. Fatigue (ca. 53%), Beeinträchtigungen des Geruchssinns (ca. 16%), Geschmacksstörungen (ca. 11%), Kopfschmerzen (ca. 10%) und Schwindel (ca. 5%).

Hier zeigt sich eine interessante historische Analogie: Auch die Spanische Grippe 1918 führte in Folge zu ungeklärten neurologischen Beschwerden, an denen noch ein Jahrzehnt lang über eine Million Menschen litten („Enzephalitis lethargica", auch Europäische Schlafkrankheit genannt). „Das zeigt, dass eine neurologische Nachbetreuung von COVID-19-Patienten mit entsprechend weiterführender Diagnostik enorm wichtig ist", so Professor Berlit.

Das neuroinvasive Potenzial von Coronaviren wurde bereits 2002/2003 beim SARS-CoV-Ausbruch beschrieben: Die Viren fand man dabei nur in Gehirnzellen, nicht in den benachbarten Blut- oder Lymphbahnen, was für einen Infektionsweg über die Nervenzellen und nicht über Blut- oder Lymphgefäße spricht. Bei SARS-CoV-2 ist ein direkter Virusnachweis im Nervenwasser (Liquor) bislang aber nur in Einzelfällen gelungen. Daraus ergibt sich die Hypothese, dass vor allem indirekt viral vermittelte Mechanismen bei der Entstehung der neurologischen Symptome eine Rolle spielen könnten. „So erklärt vermutlich die deutliche Aktivierung des Gerinnungssystems bei COVID-19 zumindest einen Teil der Schlaganfälle" erläutert Professor Hans-Christoph Diener, Pressesprecher der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN).

Eine Studie der Berliner Charité untersuchte nun 11 Intensivpatienten mit COVID-19 und neurologischen Symptomen auf spezielle Antikörper und wurde fündig: Das Immunsystem richtet sich offensichtlich bei schwer erkrankten COVID-19-Patienten gegen körpereigene Nervenzellen.

„Die Viren können die Bildung von Autoantikörpern anregen, die genau an die Oberflächenstruktur von Nervenzellen passen. Derzeit prüfen wir, ob die Antikörper-Bildung eine Folge der virusbedingten Entzündung ist. Alternativ könnte es sich dabei um eine „Strategie" des Virus handeln, seine Oberfläche körpereigenen Strukturen anzupassen, um von den Killerzellen des Immunsystems nicht erkannt zu werden. In beiden Fällen richten sie sich gegen alle Zellen mit dieser Oberflächenstruktur, auch gegen gesunde Nervenzellen. So kann das Virus ein neurologisches Symptom oder eine neurologische Erkrankung katalysieren," erklärt Prof. Dr. Harald Prüß von der Charité Berlin, Sprecher der DGN-Kommission Neuroimmunologie, der diese Daten am 6. Juli 2020 als Preprint* veröffentlicht hat [4]. Dieser Mechanismus ist auch von anderen Viren bekannt, beispielsweise können Herpesviren auf diese Weise eine autoimmune Form der Hirnentzündung nach der eigentlichen viralen Infektion auslösen.

„Noch sind nicht alle Pathomechanismen geklärt, die bei COVID-19-Patienten zu einer neurologischen Beteiligung führen, wir brauchen sicher weitere prospektive Befunde von größeren Patientenzahlen. Der von Prüß und Kollegen vermutete krankheitsauslösende Prozess erscheint aber plausibel und hat zudem den Charme, dass wir hier eine Therapieoption hätten: Bei viral ausgelösten Autoimmunreaktionen können wir erfolgreich mit Immuntherapien behandeln", so DGN-Generalsekretär Professor Berlit abschließend.

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