Mikroskop | Bildquelle: Bild von Pixabay

Baden-Württemberg:

Zahlenverständnis liefert neue Erkenntnisse über Überlebenschance der Tiere

Stand: 01.04.20 01:15 Uhr

Das Zahlenverständnis beeinflusst Experten zufolge die Überlebenschance vieler Tiere. Neurobiologe Andreas Nieder beanstandet das Fehlen gezielter Studien, die ein neues Forschungsgebiet eröffnen könnten.

Obwohl Tiere nicht mit genauen Zahlen umgehen können, verstehen sie doch, dass eine größere Zahl ‚mehr' bedeutet. Das sagt der Neurobiologe Andreas Nieder. Er hat zusammengefasst, was über Zahlen und Zählen im Tierreich bisher bekannt ist:

Von Vögeln bis zu Bienen und von Wölfen bis zu Fröschen nutzen Tiere Zahlen zum Beispiel beim Jagen, der Anlockung eines Fortpflanzungspartners oder für die Wegfindung. Forscher glauben, dass das Zahlenverständnis, die Fähigkeit, Zahlen zu verarbeiten und zu begreifen, eine wichtige Rolle dabei spielt, wie Tiere Entscheidungen treffen und wie ihre Überlebenschancen stehen. In einem Übersichtsartikel, der am 30. März 2020 in der Zeitschrift Trends in Ecology and Evolution erschien, hat Professor Andreas Nieder vom Institut für Neurobiologie der Universität Tübingen zusammengestellt, was über Zahlen und Zählen im Tierreich bisher bekannt ist.

„Interessanterweise gibt es eine Kompetenz für Zahlen in fast jedem Zweig des Abstammungsbaums der Tiere", sagt Nieder, der selbst mit verschiedenen Tierarten arbeitet. Er will herausfinden, wie auf Zahlenaufgaben trainierte Tiere Zahlen unterscheiden und wie diese im Gehirn repräsentiert werden. „Offensichtlich entwickelten verschiedene Tiergruppen unabhängig voneinander ein Zahlenverständnis. Das deutet stark darauf hin, dass Zahlenkompetenz in der Evolution eine vorteilhafte Fähigkeit war, die sich positiv auf das Überleben und den Fortpflanzungserfolg auswirkte."

Unabhängig voneinander entwickeln sich ähnliche Kompetenzen

Honigbienen können sich zum Beispiel die Zahl der Landmarken merken, an denen sie auf der Suche nach Futter vorbeifliegen. Das hilft ihnen, ihren Weg zurück in den Stock zu finden. „Der letzte gemeinsame Vorfahre von Honigbienen und uns Primaten, also Affen und Menschen, lebte vor etwa 600 Millionen Jahren", sagt er. „Trotz dieser lang zurückliegenden Trennung entwickelten die Insekten eine Zahlenkompetenz, die in vieler Hinsicht der von Wirbeltieren vergleichbar ist."

Zahlenverständnis lässt sich auch bei Tieren beobachten, die eine größere Futtermenge einer kleineren vorziehen, oder wenn Tiere sich zum Jagen zusammentun. Wölfe sind beim Jagen eher erfolgreich, wenn ihr Rudel die richtige Zahl an Tieren im Verhältnis zur Größe der Beute umfasst: bei Elchen werden nur sechs bis acht Wölfe gebraucht, während das Rudel bei der Bisonjagd neun bis dreizehn Wölfe stark sein sollte. Die potenziellen Beutetiere der Wölfe nutzen wiederum diese Regel, um sich vor ihren Fressfeinden zu schützen. Elche leben entweder in kleineren Herden, die selten auf Wölfe treffen, oder sie finden sich zu großen Herden zusammen, um das Risiko des einzelnen Tiers zu senken, zur Beute zu werden. „Offensichtlich können sie die Zahl der Individuen in ihrer Gruppe einschätzen", sagt Nieder.

Gezielte Studien fehlen

Bei manchen Tieren spielt die Zahlenkompetenz sogar bei der Suche nach einer Partnerin eine Rolle. Froschmännchen werben mit Rufen um Weibchen. Diese wählen gezielt Männchen aus, die besonders viele Nachsilben in ihren Paarungsruf einbauen. Selbst wenn es schon gelungen ist, einen Fortpflanzungspartner anzulocken, nutzen viele Arten ihre Kompetenz für Zahlen, um die Chancen auf Nachkommen zu steigern. So bewachen Mehlkäfermännchen die Weibchen nach der Paarung umso länger, je mehr Paarungsrivalen vor der Paarung zugegen waren. So verhindern sie, dass sich die Weibchen wiederverpaaren. Amerikanische Blässhuhnweibchen legen als Brutparasiten ihre Eier in die Nester anderer Blässhühner, um diese von den Wirtsvögeln ausbrüten und großziehen zu lassen. Um dies zu verhindern, zählen die Wirtsvögel die Eier ihres eigenen Geleges und verwerfen überzählige Eier des Parasiten.

Gezielte Studien zur Zahlenkompetenz bei Tieren in freier Natur wurden bisher allerdings kaum durchgeführt. „Viele dieser Befunde zum Verhalten in der freien Wildbahn wurden nebenbei erhoben oder waren Zufallsergebnisse anderer Forschungsfragen", sagt Nieder. Aus Untersuchungen im Labor haben Forscher eine Vorstellung davon, wie gut Tiere Anzahlen unterscheiden können und welchen Gesetzmäßigkeiten sie dabei folgen. Bekannt ist, dass sie eher schätzen als zählen. Ebenso ist bekannt, dass mit wachsenden Zahlen die Differenz zwischen den Anzahlen systematisch größer werden muss, damit die Anzahlen unterschieden werden können. „Zahlenkompetenz scheint ihnen generell Vorteile zu verschaffen. Wie das genau zusammenhängt und welche evolutionären Prozesse dem unterliegen, könnte ein ganz neues Forschungsgebiet eröffnen", sagt er.

Publikation: Andreas Nieder: "The Adaptive Value of Numerical Competence". Trends in Ecology & Evolution,

https://www.cell.com/trends/ecology-evolution/S0169-5347(20)30055-0

https://dx.doi.org/10.1016/j.tree.2020.02.009

Quelle: PM Eberhard Karls Universität Tübingen / Verlag Cell Press

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