Anders als beim menschlichen Auge ist der Fisch in der Lage, Verletzungen der Netzhaut auf zellulärer Ebene zu regenerieren. Den Forschern zufolge löst überraschenderweise nur ein einziger genetischer Faktor zwei zentrale Schritte im Prozess der Regeneration aus – die Zellteilung und die Ausdifferenzierung von Vorläuferzellen in die verschiedenen retinalen Zelltypen. Diese Forschungsergebnisse besitzen nach den Worten von Prof. Joachim Wittbrodt eine hohe biomedizinische Relevanz.
Dabei übernehmen spezialisierte Gliazellen die Funktion von Stammzellen. Warum verfügt der Fisch über diese Fähigkeit, nicht jedoch der Mensch, obwohl das menschliche Auge diese retinalen Gliazellen, die auch als Müllerzellen bezeichnet werden, ebenfalls enthält?
Lässt sich das Potential dieser Zellen wecken, und welche Faktoren stimulieren letztendlich diese Regenerationsreaktion? Diesen Fragen ist Prof. Wittbrodt mit seinem Team am COS nachgegangen. Die Heidelberger Wissenschaftler haben darauf eine überraschende Antwort gefunden. Offenbar reicht der kurze Puls eines einzigen genetischen Faktors aus, um Regeneration zu stimulieren. Bei diesem Faktor handelt es sich um das Gen Atoh7, das für die Zelldifferenzierung von Bedeutung ist. „Wir haben nicht gedacht, dass diese Schlüsselfunktion von einem einzigen Faktor ausgelöst werden kann", sagt Lázaro Centanin, der die Studie zusammen mit Prof. Wittbrodt leitete.
Wie Lázaro Centanin erläutert, umfasst die vollständige Regenerationsreaktion im Fischauge mehrere Schritte. Zuerst beginnen die Müllerzellen, die sich in der Nähe der Verletzung befinden, mit der Zellteilung. Anschließend bilden die dadurch entstandenen Zellhaufen neuronale Cluster, die Vorläuferzellen für die Zelltypen der Netzhaut beinhalten. Im letzten Schritt differenzieren sich diese Vorläuferzellen aus und verwandeln sich in die wiederherzustellenden neuronalen Zellen der Netzhaut. „Wir haben das Potential der Müllerzellen im Medaka-Fisch genutzt, um Faktoren zu testen, die exakt diese Regenerationsreaktion ohne jegliche Art von Verletzung hervorrufen können", sagt Prof. Wittbrodt. Zum Einsatz kamen dabei verschiedene genetische Faktoren, die entweder für Vermehrung und Wachstum der Zellen von Bedeutung sind oder die in der Zelldifferenzierung eine Rolle spielen. Dabei hat die Arbeitsgruppe um Joachim Wittbrodt ein biologisches Testsystem etabliert, das es erlaubt, die Aktivität beliebiger Gene spezifisch in den Müllerzellen auf ihr regeneratives Potential hin zu testen.
„Wir waren vollkommen überrascht, dass mit dem Gen Atoh7 ein einziger Zelldifferenzierungsfaktor zwei Funktionen erfüllt und für die Regenerationsreaktion am Ende sowohl die Zellteilung als auch die Ausdifferenzierung in die verschiedenen retinalen Zelltypen auslöst", sagt Katharina Lust, die die Erstautorin der jetzt veröffentlichten Studie ist. Mit Blick auf die biomedizinische Bedeutung dieser Forschungsergebnisse verweist Prof. Wittbrodt auf Degenerationskrankheiten der Netzhaut, die mit dem Verlust neuronaler Zellen einhergehen und beim Menschen zur Erblindung führen. Der Faktor Atoh7 könnte entweder genutzt werden, um retinale Vorläuferzellen für die Transplantation in das degenerierende Auge in Kultur zu generieren, oder auch, um die Müllerzellen direkt endogen zu stimulieren. „Auch wenn eine endogene Stimulation von Müllerzellen als Basis für eine Regeneration der menschlichen Netzhaut noch in weiter Ferne liegt, ist sie jetzt keine reine Science Fiction mehr, sondern ein anzustrebendes Ziel", betont der Heidelberger Wissenschaftler.
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