Flüchtlingsunterkunft | Bildquelle: RTF.1

Rottenburg-Ergenzingen:

Stimmungslage vor Ort: Grüne Bundestagsabgeordnete besuchen neue Aufnahmestelle in Ergenzingen

Stand: 07.10.15 06:06 Uhr

Noch streiten die Experten, ob die Zahl von 1,5 Millionen Flüchtlingen für 2015, die die Bildzeitung von enem angeblich geheimen Informanten gestern auf den Tisch brachte, richtig ist. Sicher aber ist: rund eine Millinen Flüchtlinge werden es in Deutschland wohl mindestens werde. Derzeit kommen täglich 10 000 Asylbewerber in Deutschland an. Sicher ist auch: die Lage ist dramatisch - die Behörden arbeiten längst im Krisenmodus, um dem Herr zu werden. Mittlerweile haben deshalb in Bund und Land längst Diskussionen darm begonnen, ob es eine "Grenze sozialen Belastbarkeit" gibt. Entgegen dem Statement der Kanzlerin, dass es für das Recht auf Asyl "keine Obergrenze" gebe, fordern Abgeordnete von CSU, CDU und SPD genau diese Begrenzung - eine Debatte, die die Grünen strikt ablehnen und unverantwortlich empfinden. Im Licht dieser Gemengelage habe gestern die grünen Bundestagsbgeordneten Chris Kühn und Beate Mülller-Gemmeke die Flüchtlingsaufnahmestelle in Ergenzingen besucht.


Rottenburg-Ergenzingen, im Industriegebiet, gestern um 15 Uhr 30: Als wir ankommen, sind die Abgeordneten schon mit den Verantwortlichenvor Ort ins Gespräch vertieft. Was läuft gut, was läuft falsch; sie lauschen betroffen Geschichten von einzelnen Schicksalen. In der Nacht vom 15. auf den 16. September hatte die grün-rote Landesregierung hier innerhalb weniger Stunden - und fast schon in einer Nacht und Nebel-Aktion- in einer leeren Fabrikhalle eine Aufnahmestelle eingerichtet, getrieben von den Flüchtlingsströmen, von denen im Land Tag für Tag viele Hundert auch im Land versorgt werden müssen.

Auswirkungen einer Politik "im Krisenmodus", die die Abgeordneten sichtlich nicht kalt lässt. Jetzt gehe es eben darum, so der ehemalige Tübinger Landesvorsitzende der Grünen, Chris Kühn, den Menschen, die um Leib und Leben gefürchtet  und nun die Flucht hinter sich gebracht hätten, "Sicherheit" und "eine neue Heimat" zu geben.

Verbesserungswürdige Mängel hier machen  indessen beide aus;  In der Fabrikhalle sei es um die Privatsphäre noch mangelhaft bestellt, so die Reutlinger Bundestagstagsabgeordnete Beate Müller-Gemmeke; besonders gelte dies für Frauen. Zudem, so Gemmeke,  müssten die Menschen hier auch kommunizieren können, mit ihren Familien oder Freunden. Dazu brauche es Internet. Und das soll - so die Verantwortlichen hier - demnächst auch kommen.

Gemmeke nimmt aber noch etwas anderes mit: tief beeindruckt ist sie über die Arbeit der Ehrenamtlichen. Ohne die ginge hier nicht viel, so meint sie. Und sie hoffe, dass deren Engagement noch lange andaure.

Knapp 500 Menschen aus Syrien, dem Iran, aber auch aus Pakistan Afghanistan und einige wenige vom Balkan, die in Bussen kamen, sind hier mittlerweile untergebracht. 250 Ehrenamtliche helfen. Den Umständen entsprechend gut sei trotz aller Widrigkeiten  die Stimmung – so urteilt Bruno Gross vom derzeit für die Gesamt-Leitung verantwortlichen Tübinger DRK.

Ersichtlich sei, dass die Menschen froh über ihre Ankunft in der Sicherheit seien, meint er; froh auch darüber, neue Kleidung und ein Dach über dem Kopf zu haben. Für Verunsicherung sorge freilich, dass die Menschen hier keine sichere Perspektive hätten: "Bleiben sie hier, kommen sie weg, wie läuft das Verfahren?"

So will die Landesregierung beispielsweise eine neue große bedarfsorientierte Aufnahmestelle in Heidelberg einrichten. Auch Menschen von hier sollen nach dort kommen, heißt es. Soll das hier eine BEA oder LEA sein, in der dann Asylanträge auch gestellt werden können oder eben nicht? Die Verantwortlichen hier wissen es nicht. Die Auskünfte aus Stuttgart schwanken und wechseln.

Schwankende Stuttgarter Angaben und  organisatorische Wirrnisse: ein Umstand,  den auch Rottenburgs OB beklagt: Er gestehe dem Stuttgarter Integrationsministerium zwar einerseits zu, dass dieses arbeitstechnisch überlastet sei, so Stephan Neher. Fakt aber sei auch: es müsse "nicht immer alles über Stuttgart laufen". Für Verunsicherung sorge zudem, dass niemand wisse, bis wann die Aufnahmestelle geöffnet bleiben solle. Was also soll die Stadt hier investieren, so seine Frage, um längerfristig für alle Eventualitäten gewappnet zu sein. Geredet wird von rund zwei Jahren. Noch aber sind nicht mal Verträge für diese verteilt.

Auch Ulrich Stahl, der eigentlich im Umweltreferat des Regierungspräsidiums Tübingens arbeitet und sich freiwillig für hier gemeldet hat, beklagt organisatorisch chaotische Zustände. Auch er könne nicht sagen, wie und ob es hier weitergehe. Und das sei eben - auch für die Menschen hier -  das Hauptproblem.

Konflikte und Auseinandersetzungen unter Flüchtlingen -  von denen derzeit fast täglich berichtet wird - so erfahren die Grünen – gebe es hier praktisch nicht. Einmal habe es einen solchen Moment hier gegeben. Oft sei es die Angst "vor dem Fremden", die zu Spannungen führe. Flüchtlinge brächten diese Konflikte sozusagen aus ihren Heimatländern mit. Als Beispiel für religiös angelegte Spannungen führt Gross Muslime an, die sich strikt an ihren Glauben halten - und versuchten, anders ausgerichtete Muslime "anzugehen". Das lasse sich aber vor Ort durch Gespräche ausräumen. Allerdings, so räumt er ein, gebe es hier praktisch auch nur Muslime.

Bedarf an Diskussionen um Grenzen der sozialen Belastbarkeit, um Zuwanderungsstopp oder Aylrechtsänderung empfinden Kühn und Müller-Gemmeke deshalb mehr als überflüssig, sagen sie: Absolut unverantwortlich sei, so die Reutlingerin, jetzt über solche Fragen zu diskutieren.  Ressentiments gegen Flüchtlinge dürften nicht geschürt werden.Stattdessen müsse man wie die Kanzlerin sagen: "Wir schafen das". Was in der Politik derzeit stattfinde, befeure Ressentiments bei anderen.

Ressentiments will Bruno Gross vom DRK ganz sicher nicht schüren. Eine Botschaft aber gibt er den Abgeordneten und der Politik mit eindringlichen Worten nach Hause mit: Bereits hier, in der Aufnahmestelle, müsse man den Neuankömmlingen klar machen, dass es Gesetzte,  Rechte und Werte gebe, die "nie zur Disposition" stünden. Dass die Würde und Freiheit des Menschen in diesem Land  unantastbar sei - und: dass dies auch für alle gleichermaßen gelte.

Bereits hier, in den Aufnahmestellen, so meint er,  werde das Thema einer später gelingenden oder misslingenden Integration in eine westlich-demokratische Gesellschaft auf die alles entscheidende Feuerprobe gestellt.

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