Streitgespräch zum Thema Inklusion | Bildquelle: RTF.1

Tübingen:

Inklusion oder Förderschule? - Streitgespräch zwischen Oberbürgermeister und Stadträtin

Stand: 22.03.25 15:51 Uhr

Wie sollen Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf künftig beschult werden? Inklusiv, also in der Regelschule? Oder in einem sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum, früher als Sonderschule bekannt? Darüber diskutierten Oberbürgermeister Boris Palmer und SPD-Stadträtin Ingeborg Höhne-Mack in einem Streitgespräch im Uhlandsaal des Museums in Tübingen.


Im Großen und Ganzen sind sich die beiden Parteien einig. Der zentrale Unterschied ist eigentlich nur einer: Sollen die Förderschulen auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen oder abgeschafft und vollständig durch inklusive Beschulung in Regelschulen ersetzt werden? Oberbürgermeister Palmer glaubt, dass die Abschaffung der Förderschulen ganz falsch wäre. "Weil es Kinder gibt, die dort besser aufgehoben sind, die im Regelsystem untergehen, die auch nicht inkludiert werden, sondern sogar ausgesondert werden von anderen Kindern."

Diese Meinung teilt auch der frühere Vorsitzende des Fördervereins der Pestalozzischule Tübingen, Hanspeter Häberle, der selbst einmal entscheiden musste, seine Tochter auf eine Förderschule zu schicken. Aber er habe gemerkt, dass es ihr gut tue. "Sie hat eine kleine Klasse und die sind ja alle so wie sie. Und sie hat dann eben nicht nur vier oder fünf Stunden, sondern praktisch alle 25 Stunden ihre Unterstützung, weil das Lerntempo und die Methoden auf sie eingestimmt sind." Das, was Sonderpädagogen in vier Jahren lernen würden, nämlich wie man Kindern mit Lernbehinderung oder geistiger Behinderung den Stoff beibringt, könnten allgemeinbildende Lehrer nicht in einem Crashkurs lernen. Es sei wichtig, dass die Eltern weiterhin eine Wahl hätten, auf welche Schule sie ihr Kind mit Förderbedarf schicken möchten.

Die SPD-Stadträtin Ingeborg Höhne-Mack möchte den Weg weitergehen, den man auch in Baden-Württemberg jetzt eingeschlagen hat: "Wir brauchen das Fundament für gesellschaftliche Teilhabe und es ist ja seit Jahrzehnten bekannt, dass in einer inklusiven Klasse beide Seiten voneinander lernen – sehr viele soziale Kompetenzen, sehr viel Verständnis füreinander, aber auch methodische und kognitive Kompetenzen."

Aus Palmers Sicht leidet der Lernerfolg unter den aktuellen Gegebenheiten im Bereich der Inklusion. Zunächst seien einfach nicht genug Fachkräfte verfügbar. Dazu kämen die finanziellen Probleme: Die Sozialkosten des Landkreises seien in drei Jahren um 60 Mio. Euro gestiegen, im Wesentlichen wegen dem Bundesteilhabegesetz (viel davon Inklusion), wegen Jugendhilfe und Flüchtlingsunterbringung. "Das Ergebnis ist, dass wir bei der Stadt Tübingen 25 Mio. Euro wegstreichen müssen um höhrere Sozialkosten finanzieren zu können." Man müsse die wenigen vorhandenen Ressourcen sinnvoll nutzen: "Effizient ist es nicht, wenn ich eine 1:1-Betreuung an allen Schulen organisieren muss und wegen der 1:1-Betreuung nur die Hälfte der Zeit für das jeweilige Kind zur Verfügung steht und die andere Hälfte der Zeit die Lehrer gucken müssen, wie sie klarkommen. Effizient ist es nicht, wenn die Sonderpädagogen die Hälfte ihrer Arbeitszeit auf dem Weg zwischen Schulen verbringen statt zugeordnet an einer Schule ihre ganze Zeit dem Kind widmen zu können. Zersplitterung der Ressourcen können wir uns nicht mehr leisten!"

Die Kosten für Schulbegleitungen dürften die Kommunen nicht sonderlich belasten, argumentierte Höhne-Mack. Die Stadträtin forderte Palmer auf, einen Brandbrief an die für Bildung zuständige Landesregierung zu schreiben. "Das finde ich wirklich einen Skandal, dass von Seiten des Landes die Schaffung von Barrierefreiheit nur dann förderfähig wird, wenn ein konkreter Fall vorliegt. Das ist doch Blödsinn."

Wie Höhne-Mack hält es auch Martin Schüler, Schulamtsdirektor beim Staatlichen Schulamt Tübingen, für sinnvoll, Inklusion an Regelschulen durch die Aufstellung professioneller Teams zu fördern. Die Schulleitungen hätten gesagt, die Lehrkräfte wünschen sich, dass an den Schulen EIN Sonderpädagoge mit möglichst vielen Ressourcen da ist. "Da muten wir den Sonderpädagogen natürlich auch zu, dass, wer vorwiegend für Lernen zuständig ist, auch mal für Kinder im Bereich Lesen zuständig sein muss. Da nehmen wir gewisse Kompromisse in Kauf."

Um Inklusion an Schulen gewinnbringend anbieten zu können, müsste man in Palmers Augen grundsätzlich die Belastungen eingrenzen, denen das System ausgesetzt ist. Als Beispiel führte er die Skandinavischen Länder auf, ganz vorne Dänemark und Schweden. "Sie haben radikal den Flüchtlingszustrom abgedreht. Und damit haben sie die Primäraufgabe, die unser Schulsystem gerade bewältigen muss, nämlich Integration von Kindern, die ganz viele Förderbedarfe haben, einfach erspart. Das erleichtert Inklusion ganz erheblich."

Ausschlaggebend für die Diskussion war der im ZDF-Morgenmagazin unvorsichtig formulierte Satz von Boris Palmer, dass es – aufgrund der weiter steigenden Sozialkosten – nachdenkenswert wäre, Sonderschulen wieder stärker zu fördern, weil sie für die Kinder, aber auch finanziell effizienter arbeiten würden als die derzeit gemachte Inklusion. Die empörte Stadträtin hatte ihn darauf herausgefordert – eine gute Entscheidung, wie das große Interesse im Museum zeigte.

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