Warte nicht auf bessre Zeiten!

Wortzauberer. Denkweiser. Zeitreifer! Was uns Wolf Biermann da vorlegt, ist in mehrerer Hinsicht gewaltig: Ein "Sittengemälde deutsch-deutscher Zeitgeschichte" nennt Biermann seine Autobiografie im Nachwort., eine "Familiengeschichte als ein Stückchen Weltgeschichte"; zugleich ein "prosaische[s] Poesiealbum".

Bewertung: 3 von 3 Daumen

Wortzauberer. Denkweiser. Zeitreifer! Was uns Wolf Biermann da vorlegt, ist in mehrerer Hinsicht gewaltig: Ein "Sittengemälde deutsch-deutscher Zeitgeschichte" nennt Biermann seine Autobiografie im Nachwort., eine "Familiengeschichte als ein Stückchen Weltgeschichte"; zugleich ein "prosaische[s] Poesiealbum".

Biermanns Lebensweg: Liedermacher. Vom Kommunist zum Anti-Kommunist. Familie, Privates. Zeitgeschichte. Stasi-Akten. Einortung. Philosoph. Wort- und Satzzauberer. Abenteuer! Poesie! Leid! Frauengeschichten! Fassungslosigkeit. Seelengeld. Widerstand! Radioaktiv.

Was ist Kommunismus?

Vita: Als Kind einer überzeugten Hamburger Kommunisten-Familie wird ihm in seiner Jugend eingeschärft, den Vater zu rächen: Der wurde im Konzentrationslager Auschwitz von den Nationalsozialisten ermordet. Das prägt ihn. Und so fühlt er sich als "rechtmäßiger Erbe" des Kommunismus. Als Mitglied einer westdeutschen kommunistischen Jugendorganisation nimmt er an Jugend-Veranstaltungen der DDR teil. In jungen Jahren wechselt er er auf ein Internat - in der DDR. Aufmüpfigkeit: Sehr schnell wird Biermann klar: Die Methoden in Internat und Partei haben nichts mit dem zu tun, was er unter Kommunismus versteht. Stattdessen: Blinder Gehorsam wird eingefordert. Abweichende Ansichten oder eigenständiges Denken werden nicht zugelassen und unterdrückt.

Kommunismus:

"Der Kern der kommunistischen Idee, so wie ich sie verstand, hieß nicht Gleichmacherei, sondern einzig: Gleiche Rechte für alle Menschen und Gerechtigkeit"(S.525). "Damals glaubte ich, dass Demokratie und Kommunismus zusammen funktionieren können. Das war ein Irrtum." (S.525). Popper sagte in seinem "Das Elend des Historizismus": : "Die Hybris, die uns versuchen lässt, das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen, verführt uns dazu, unsere gute Erde in eine Hölle zu verwandeln.".(S.523).. Biermann widerspricht Popper in einem wichtigen Punkt: "Jeder Versuch, das Himmelreich auf die Erde zu zwingen,  ist eine Anmaßung, aber er verführt uns nicht, nein, er zwingt uns! - er zwingt jeden Menschheitsretter, unsere Erde in eine Hölle zu verwandeln. " (S.524). Und: "Der Marsch ins Paradies der totalitären Diktatur zwingt sie alle in die totalitäre Diktatur. Die Protagonisten werden eleminiert oder sie eleminieren, sie morden oder werden ermordet."  (S.525)

Stasi

Die Beobachtung durch die Stasi war lückenlos. Wir erleben  diesen Aspekt über das Buch hinweg aus der Sicht, dem Erleben Biermanns. Und später aus dem, was die über [50] erhaltenen Stasi-Aktenordner an Èinblicken hergeben: Biermann wurde lückenlos überwacht. An einem abendlichen Treffen in Biermanns Wohnung war die Stasi gleich drei Mal vertreten:  Zwei Stasi-Spitzel und die in Biermanns Wohnung installierte Stasi-Abhöranlage sorgten für eine lückenlose Dokumentation des Abends.

Biermann schildert einen mutmaßlichen Mordanschlag der Stasi auf ihm: Ein Auto seiner Bewacher hätte ihn um ein Haar überfahren, direkt vor der Stasi.-Zentrale. Und aus den Akten der Stasi erfuhr Biermann später, dass er bei einem privaten Strandurlaub von mehreren Stasi-Mitarbeitern beobachtet wurde. Und: Die Stasi hatte vorsichtshalber auch einen Stasi-Rettungsschwimmer für Biermann abgestellt. Biermanns Tod war für das Regime nicht zu jeder Zeit opportun.

Nukleolus

Ein Nukleolus seiner Autobiografie findet sich übrigens in den 8 Vorlesungen Biermanns in dessen vergriffenem Werk "Wie man Verse schreibt und Lieder. Eine Poetik in acht Gängen (Köln, 1997),die er als Mischung zwischen "Dozieren" und "Erzählen" bezeichnet.

Hörbuch

Ausgezeichnet gelungen ist auch das dazu gehörige Hörbuch; ebenso prägnant wie angenehm gelesen von Burghart Klausner. Ein besonderes Bonbon des Hörbuchs ist beispielsweise die eingearbeitete Originalaufnahme von Biermanns Gedicht an die Alten auf jener schicksalhaften DDR-Kulturveranstaltung.

Bundestag - 25. Jahrestag

Da er mit seiner Autobiografie schon ein paar Jahre vor seiner Geburt angefangen habe, dürfe er es sich auch leisten, mit dieser bereits einige Zeit vor seinem Ende zu enden, schreibt Biermann, und man sieht ihn dabei schmunzeln. Deshalb möge uns der Autor gestatten, hier noch ein Ereignis hinzuzufügen, aus der autobiografischen Nachzeit, die von Biermanns Autobiografie nicht mehr erfasst wird. Die in späteren Biografien über Biermann aber wohl ebenfalls als ein wichtiges Ereignis, nicht nur für Biermann selbst, sondern auch für die parlamentarische Demokratie genannt werden dürfte:

Biermanns Auftritt vor dem Deutschen Bundestag, zum 25. Jahrestag des Mauerfalls. Eingeladen von Bundestagspräsident Lammert, um das Lied "Ermutigung" vorzutragen, ließ sich Biermann das Reden trotz Lammerts Hinweis auf die Geschäftsordnung nicht verbieten: [ .. ] Den Hinweis von Bundestagspräsident Lammert, er sei zum Singen eingeladen, aber reden könne erst erst, wenn er als Abgeordneter in den Deutschen Bundestag gewählt werde, konterte Biermann so: "Aber natürlich hab ich mir in der DDR das Reden nicht abgewöhnt. Und das werd ich hier schon gar nicht tun."

Biermann weiter: "Ich bin Drachentöter und kann nicht mit großer Gebärde die Reste des Drachenbrut tapfer niederschlagen. Die sind geschlagen." sagte Biermann zu den Linken gerichtet. " Die Linke folgte der Rede Biermanns mit meist versteinerter Miene. Der Rest des Parlaments applaudierte heftig. Hier die komplette Rede:

Biermann spielt auf seiner Gitarre zunächst gut 80 Sekunden ein spanisch anmutendes Gitarrenvorspiel, und wendet sich dann schmunzelnd an den Bundestagspräsidenten.

Biermann: "Herr Lammert, ich freue mich dass Sie mich hierher gelockt haben. Und ich ahne schon, weil ich Sie ja als Ironiker kenne, dass Sie hoffen, dass ich den Linken ein paar Ohrfeigen verpasse. Aber... das kann ich ja nicht liefern: Mein Beruf war doch Drachentöter."

Lammert: "Ich kann Ihnen auch, Herr Biermann, mit einem Hinweis auf unsere Geschäftsordnung helfen...-" (Applaus)

Biermann: "Wow"

Lammert: "Sobald Sie für den Deutschen Bundestag kandidieren und gewählt werden, dürfen Sie hier auch reden. Heute sind Sie zum Singen eingeladen."

Biermann: "Ja, aber natürlich hab ich mir in der DDR das Reden nicht abgewöhnt. Und das werde ich hier schon gar nicht tun. (Großer Beifall) Ein Drachentöter kann nicht mit großer Gebärde die Reste des Drachenbrut tapfer niederschlagen. Die sind geschlagen." (Applaus)

Biermann:(wendet sich zur Fraktion der LINKEN) "Und es ist für mich Strafe genug, dass Sie hier sitzen müssen, dass Sie das anhören müssen. Und so neu bin ich nicht in der Welt -" (Zwischenruf von der LINKEN)

Biermann: "Wollen, Ihr wollt immer, das weiß ich ja, aber Ihr könnt nicht." (Lachen, Applaus).

Biermann: "Aber so neu bin ich ja nicht in der Welt, einige Gesichter kenn ich ja, jeder einzelne ist ein Roman. Das muss mir keiner breitartig erklären.... Sehr kompliziert, aber als Gruppe die Ihr ja auch seid, seit Ihr eben aus meiner Sicht keine Linken -" (Zwischenruf von den LINKEN, man sei schließlich gewählt)

Biermann: "Gewählt...im Deutschen Bundestag...kann man doch nicht erzählen, dass * ne Wahl ein Gottesurteil ist .. wenn man die deutsche Geschichte kennt .. * zu clever... gefährlich -" (Zwischenruf von den LINKEN).

Biermann: "- weiß ich doch. Eure Sprüche die habt ihr drauf. Ich weiß, ich habe meine auch drauf. Ihr müsst * mir gar nichts erzählen.* Also, Ihr seid dazu verurteilt, das hier zu ertragen.
Ich gönne es Euch. Und ich weiß ja, dass die, die sich Linke nennen, nicht links sind, auch nicht rechts, sondern reaktionär. Dass diejenigen, die hier sitzen, der elende Rest dessen sind, was zum Glück überwunden ist."

Biermann: "Und ich freue mich, dass ich hier ein Lied singen kann, die Ermutigung -" (Zwischenruf von den LINKEN)

Biermann: "- weiß ich doch. Eure Sprüche die habt ihr drauf. Ich weiß, ich habe meine auch drauf. Ihr müsst * mir gar nichts erzählen.* Also, Ihr seid dazu verurteilt, das hier zu ertragen.

Ich gönne es Euch. Und ich weiß ja, dass die, die sich Linke nennen, nicht links sind, auch nicht rechts, sondern reaktionär. Dass diejenigen, die hier sitzen, der elende Rest dessen sind, was zum Glück überwunden ist."

Biermann: "Und ich freue mich, dass ich hier ein Lied singen kann, die Ermutigung -" (Zwischenruf von den LINKEN)

Biermann: "- Natürlich, Ihr wollt lieber zersungen werden. Ich habe Euch zersungen mit den Liedern, als Ihr noch an der Macht ward. Ihr seid -" (Applaus)

Biermann: "Dieses Lied, das Herr Lammert gerne hören möchte, und das ich auch gerne singe - Ermutigung -, das sei bei dieser Gelegenheit angemerkt, war bei denen [mit dabei], die Widerspruch anmeldeten, in verschiedenen Graden:

Manche sehr feige. Manche sehr mutig. Manche zu mutig. [Das Lied] war wie so´n Stück Seelenbrot, das sie gegegessen haben. Dieses Lied "Ermutigung".

Und ich weiss, dass manche, die im Gefängnis saßen, wie mein Freund, der Pastor Matthias Storch und seine Frau Tine, mit diesem Lied in der Zelle überlebt haben.

Und ich finde es wunderbar, dass dieses Lied aus den Gefängnissen der DDR heute im Parlament der deutschen Demokratie gesungen werden kann. Ist das nicht toll?" (Lied beginnt, Großer Beifall).
Videos:

Wolf Biermann mit seinem Lied "Ermutigung" auf Youtube -> sehen Sie hier! (Aufzeichnung aus dem Jahr 1989)

Wolf Biermanns Lied nebst Rede im Bundestag am 08.11.2014 -> sehen Sie hier! (Aufzeichnung von Phoenix; Biermanns Rede beginnt ab Minute 1:40)

Hintergrund:

Biermann war in der "DDR" als Liedermachen und Regimekritiker starken Repressalien ausgesetzt.

Die kommunistische "Deutsche Demokratische Republik" wurde von der SED, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und dem obersten Entscheidungszirkel, dem Politbüro, mit den langjährigen Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht und Erich Honecker diktatorisch beherrscht.

Nach dem Zusammenbruch der DDR nannte sich die kommunistische Unrechtspartei SED zunächst in PDS um - Partei des Demokratischen Sozialismus, und verschmolz schließlich mit der westdeutschen WASG zur Partei der LINKEN.

Aus dieser Historie heraus sind die Worte von Wolf Biermann daher zu verstehen, der in den LINKEN "den kläglichen Rest" der früheren, herrschenden Partei der "DDR", der SED, sieht.

Biermann zog 1953 aus der westdeutschen Bundesrepublik in die ostdeutsche DDR, und war in den Folgejahren als Lyriker und Liedermacher tätig.

In seinen Liedern und seiner Lyrik kritisierte Biermann das DDR-Unrechtsregime, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Die DDR verhängte schließlich1965 ein Auftritts- und Publikationsverbot gegen den unbequemen Regimekritiker.

Nachdem Biermann 1976 ein Gast-Konzert in der Bundesrepublik gegeben hatte, verweigerte ihm die DDR die Wiedereinreise.

Wolf Biermann wurde ein Jahr später, 1977, aus der DDR ausgebürgert.

Nach Öffnung der Stasi-Akten stellte sich heraus, dass Biermanns westdeutscher Konzert-Manager und Freund ebenfalls für die Stasi, für die ostdeutsche Staatssicherheit, als Stasi-Spitzel gearbeitet hat.

Am 07.11.2014 schrieb Wolfgang Biermann mit seiner "Drachenbrut-Rede" im Deutschen Bundestag Geschichte.

 

Anmerkung der Redaktion:

In einer früheren Version wurde an dieser Stelle versehentlich ein unfertiges Konzept veröffentlicht.  Wir bitten für das Versehen um Entschuldigung.

Erstveröffentlichung dieses Artikels: 2015

Jüngste Aktualisierung: 16.03.2022 - 01:03

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