Kongress | Bildquelle: RTF.1

Reutlingen:

"Vieles übersieht man": Betreuer tauschen sich über alltäglichen Rassismus und Traumatisierungen bei jungen Migranten und Flüchtlingen aus

Stand: 03.12.15 23:03 Uhr

Wenn Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe oder ihrer Religion benachteiligt werden - dann ist gemeinhin von Rassismus die Rede. Das Empfinden der Betroffenen kann dann oft auch Ausgangspunkt für Probleme oder eine gescheiterte Integration in diese Gesellschaft sein. Sozialpädagogen und Sozialarbeiter haben täglich mit solchen Jugendlichen zu tun. Zu oft aber - so ein Tenor - werde der Ausgangspunkt solcher Probleme nicht oder zu wenig wahrgenommen. Ein Fachtag in Reutlingen hat sich heute dem Thema des Umgangs mit Rassismus-Erfahrungen aus der Perspektive der Betreuenden angenommen. Dabei haben die aktuellen Entwicklungen um die Flüchtlingssituation mit oft traumatisierten Jugendlichen dem ursprünglichen Thema eine weitere wichtige Perspektive gegeben.


Das Matthäus-Alber-Haus in Reutlingen: Heute Ort eines Fachtags für den Umgang mit Rassismuserfahrungen und Fluchterfahrungen. Das Mosaik am Eingang zeigt den verzweifelten Kampf verfolgter eingekreister kirchlicher Reformatoren. Symbolisch spiegelt sich dort aber auch das Empfinden vieler junger Migranten von heute wieder: einkesselt durch gesellschaftliche Herabsetzung aufgrund ethnischer Herkunft, Nationalität oder Religion. Rund 80 Sozialpädagogen und Sozialarbeiter, die täglich mit solchen Menschen zu tun haben, haben dort heute ihre Erfahrung in Workshops ausgetauscht – und über bessere Konzepte diskutiert. Eingeladen hatten die Reutlinger BruderhausDiakonie, die Stadt Reutlingen und das Netzwerk Antidiskriminierung e.V.

Man habe , so  Andreas Foitzick von der Abteilung für jugend, Bildung, Migration, "täglich mit Jugendlichen zu tun, die Rassismuserfahrung machen". Studien belegten, dass solche Erfahrung in der Arbeit der Beratungen nicht genügend gewürdigt würden, " dass sie eher bagatellisiert werden, manchmal auch pathologisiert werden, das man einfach sagt: die kinder- sind sehr empfindlich". Es sei in der Auswirkung dramatisch, wenn Jugendliche diese Erfahrung grade bei denen machten, von denen sie professionell betreut würden.

In den von Fachleuten gecoachten Workshops sollte bei den Männern und Frauen der Praxis eine stärkere Sensibilität im Umgang Betroffenen geschaffen werden; diskriminierende Herabsetzungen gibt es demnach täglich – auch für "Hiergeborene". Die Bandbreite reiche dabei vom "komisch angeguckt zu werden", nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden, nicht in  die Disko reinzukommen, bis zu entsprechenden Witzen.  All dies passiere alltäglich.

Ein sensiblerer Blickwinkel der Helfenden auf tägliche Diskrimierungserfahrungen – so heute Professor Claus Melter von der Hochschule Esslingen im Eröffnungsvortrag – werde aber auch durch einen unbewussten struktureller Rassismus in den Betreuungsorganisationen und den Ausbildungsinstitutionen selbst verhindert. Bei der Frage, wer zugelassen werde und wer sprechen dürfe, sehe die Realität vorrangig nach dem Schema aus: "männlich, christlich und  angesehehene Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Auch hier gebe es beim Thema Beteiligung von Migranten großen Nachholbedarf. Auf diese Weise reproduizere man "in unseren Einrichtungen auch Diskriminierungsstrukturen".

Aufgrund der ganz aktuellen Entwicklungen kam zudem der Umgang mit jungen Flüchtlingen mit auf die Tagesordnung. Immer öfter haben sie es hier mit schwer traumatisierten Jugendlichen zu tun. Traumatisierung komme dabei anders als oft gedacht daher, so  Andreas Foitzick. Die allgemeine Vorstellung sei, dass nur "ein schlimmes Ereignis, ein Überfall oder Todesangst dazu führe. In der Realität müsse man aber  eher davon ausgehen, dass das nur rund ein Prozent der Fälle beträfe. Oft gründe eine Traumatisierung auf "eine Abfolge von vielen kleinen Dingen" . INsgesamt könne man davon ausgehen, dass "alle Jugendliche, die hier ankommen, eine solche Geschichte hinter sich haben".

Manche, so berichten die Betreuer aus ihrer alltäglichen Arbeit, stecken es dann besser weg, und können am nächsten Tag bereits "mit aller Energie loslegen". Andere litten so sehr unter dem Erlebten, dass nicht einmal an eine Teilnahme an Sprachkursen zu denken sei. Ein Sozialarbeiter auf 150 Flüchtlinge in einer Aufnahmestelle, so der Tenor, reiche da zur Bewältigung nicht.

WERBUNG:



Seitenanzeige: